Predigt 9. Sonntag im Jahreskreis
„Der Sonntagsgottesdienst –
ein begründungspflichtiges Ausnahmeverhalten?“
„Ein begründungspflichtiges Ausnahmeverhalten“ – so nennt der Theologe Karl Friedrich Ulrich das, was Sie gerade tun: Am Sonntag in die Kirche gehen und Gottesdienst feiern. Tatsächlich ist das eine Ausnahmeerscheinung. Gerade 2% der evangelischen Christen und etwa 6% der katholischen Christen (bei uns sind es glücklicherweise noch über 10%) brechen noch regelmäßig am Sonntagmorgen zum Kirchgang auf.
Ein „begründungspflichtiges Ausnahmeverhalten“ – zum Glück ist das zunächst eine subjektive Wahrnehmung, nicht eine juristische Verpflichtung: Der Großteil der Deutschen könnte auf das störende Glockenläuten am Morgen verzichten, aber kann nichts dagegen tun, weil die freie Ausübung der Religion durch das Grundgesetz garantiert ist. Wahrscheinlich haben die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes bei seiner Verabschiedung vor 75 Jahren nicht erwartet, dass die religiöse Gestalt unserer Gesellschaft sich einmal so massiv verändert, aber wir können dankbar sein, dass sie damals sehr vorausschauend waren. Es war auch schon anders. Mancher kann sich noch an Zeiten erinnern, in denen der, der am Sonntag fehlte, sich dafür rechtfertigen musste. Heute ist es gerade umgekehrt: Sie, die Gottesdienstbesucher, müssen meist den Enkeln erklären, warum Sie am Sonntag so früh aufstehen und wohin sie gehen. Mancher muss seinen sonntäglichen Kirchgang regelmäßig gegen Angriffe und Spottattacken aus Familien- und Freundeskreis verteidigen. Daran haben wir uns gewöhnt: Menschen und Medien, die nichts mehr mit Kirche zu tun haben, lancieren häufig Spitzen gegen unsere Art der Sonntagsgestaltung. Aber mittlerweile kommen die Angriffe nicht mehr nur von Außen. Immer öfters stellen TheologInnen und PfarrerInnen den Sonntagsgottesdienst in Frage.
Mitte Mai veröffentlichte die Beilage Christ & Welt der ZEIT einen Gastbeitrag von Hanna Jacobs, einer jungen Pfarrerin im Bereich der Diakonie in Hildesheim, unter der provozierenden Überschrift „Schafft den Gottesdienst am Sonntag ab!“ (Die Zeit 19/2024). Hanna Jacobs wirft den großen Kirchen vor, mit dem Sonntagsgottesdienst an einem Ritual festzuhalten, das nur für einen sehr geringen Teil der Kirchenmitglieder überhaupt noch eine Rolle spielt und kaum noch Nachwuchs findet, obwohl es als Kernangebot der Kirchen gilt. Sie klammern sich an eine Tradition, die zu viele Kräfte und Energien bindet, die für andere, in den Augen von Frau Jacobs geeignetere Angebote fehlen. „Die Zeit ließe sich besser nutzen“. Es ist ist nicht so, dass Pfarrerin Jacobs die Gottesdienste am Sonntag verbieten will, aber sie stellt das flächendeckende Angebot in Frage: „Für 50 und mehr Personen lohnt sich das wohl, vor allem da, wo der Sonntagmorgengottesdienst noch einen echten Stellenwert im Leben hat. Für ein trauriges Dutzend allerdings lohnt es sich nicht mehr.“ Sie argumentiert, dass aufgrund des hohen Aufwands, der für eine kleine Schar betrieben wird, Angebote für Senioren, Familien und Kinder ausfallen müssen, weil die Hauptamtlichen zu viel ihrer Arbeitszeit in die Vorbereitung des Sonntagsgottesdienstes investieren. Das Argument kann ich nicht teilen und lässt mich fragen, ob die Autorin wirklich die Situation von Gemeinden kennt.
Frau Jacobs greift zurecht auf eine Erkenntnis zurück, die auch biblisch begründbar ist: Altes muss sterben, um Neuem Platz zu machen. Sie sieht mehr Zukunftschancen für die Kirche in Feiern und Events, die heutige Menschen mehr in ihrer Lebenssituation und ihren Interessen ansprechen: Biblische Weinproben, Jazz-Gottesdienste, Lesekreise, Schlagergottesdienste. Die Streichung vieler Sonntagsgottesdienste würde nach Ansicht von Frau Jacobs Möglichkeiten eröffnen für profiliertere Angebote mit besseren Konzepten und stimmungsvollerer Atmosphäre. Dann, so ist sie überzeugt, würden die Kirchen „wieder etwas voller.“
Die Argumente von Pfarrerin Jacobs sind weder neu noch überzeugend, aber Auslöser einer aufgeregten Diskussion in den letzten Wochen gewesen. Kleineren Gemeinden den Sonntagsgottesdienst zu nehmen und durch Sonder-Veranstaltungen wie biblische Weinproben zu ersetzen sehe ich nicht erfolgversprechend. Auch teile ich nicht die Ansicht, dass eine kleinere Gottesdienst-gemeinde per se eine „traurige Schar“ sein muss. Ich meide Gottesdienste im großen Dom, weil ich sie blutleer empfinde und sie mich in keiner Weise mitnehmen, auch wenn hunderte Menschen da sind. Dafür kann ein Gottesdienst in einer kleinen Dorfkirche mit weniger Teilnehmern durchaus von einer dichten und gesammelten Atmosphäre gefüllt sein. Ihre Argumentation ist nicht unbedingt schlüssig, aber greift die gängigen Begründungen der Gegner des Sonntagsgottesdienstes in den eigenen Reihen auf: Die Vorbereitung und Feier des Sonntagsgottesdienst bindet Zeit und Kräfte, die für andere Angebote besser gebraucht werden. Auch wenn die Diskussion v.a. in der evangelischen Kirche geführt wird, gibt es auch in unserer Kirche Hauptamtliche, unter ihnen auch Priester und Diakone, die gerne einmal den Sonntag frei haben möchten und längst nicht mehr überzeugt sind, dass der Sonntagsgottesdienst Zukunft hat.
Man kann solche Meinungen einfach kopfschüttelnd ignorieren oder sich aufregen über solche Ignoranz. Ich glaube auch nicht, dass wesentliche Überlegungen aus dem, was Pfarrerin Jacobs äußert, für uns von Belang sind, aber sie fordern doch heraus, sich des Selbstverständlichen zu vergewissern. Ich habe keinen Zweifel an der Wichtigkeit und Notwendigkeit des Gottesdienstes am Sonntag, aber die Frage ist: Warum? Warum geht der Sonntag nicht ohne Gottesdienst?
Letzlich bietet sich hier ein Strauß von Impulsen an.
Die Lesung des heutigen Sonntags öffnet uns für ein Identitätsmerkmal des Judentums: Die Feier des Sabbats, des Ruhetags. Zwei Argumente führt die hebräische Bibel an: Der siebte Tag ist in der Schöpfungsüberlieferung der Tag, an dem Gott ruht. Gott schafft auch die Erholung, die allen Lebewesen geschenkt wird. Die Möglichkeit, einen Tag der Ruhe einzuhalten, erinnert Israel aber auch an seine Würde als freie Menschen. In Ägypten waren die Kinder Israels Sklaven und hatten nicht das Recht zum Atemholen. Im Land aber, das Gott ihnen verheißen hat, wird der Sabbat zum Ausdruck ihrer Freiheit als Kinder Gottes.
Wir feiern nicht mehr den Sabbat, also den siebten Tag, sondern den ersten Tag der Woche als das wöchentliche Osterfest. Eigentlich kennen wir kein Wochenende, sondern den Ruhetag am Beginn der neuen Woche. Dennoch ist der Gedanke der Ruhe verbindend. Würden wir den Sonntagsgottesdienst nicht mehr so stark in Erinnerung rufen, wie wir es hoffentlich immer noch tun, dann gäben wir den Herrentag noch mehr der Beliebigkeit preis. Natürlich achtet der heutige Mensch auf eine gute „Work-Live-Balance“, aber der weitgehend gemeinsame Ruhetag ist auch ein prägendes Element der Gesellschaft. Wie der Sabbat für Israel macht uns der Sonntag bewusst, dass unser Leben nicht allein aus eigener Kraft gelingen kann, sondern nur in Verbindung mit Gott, der uns zu seinem „Heiligen Volk“ gerufen hat. Dazu gehört aber auch das gemeinsame Gotteslob.
Nach biblischer Zählung ist der Sonntag also der erste Tag der Woche und Christen feiern an ihm die Auferstehung Jesu Christi, über alle konfessionellen Grenzen hinweg. Der Sonntag ist somit auch ein Zeichen ökumenischer Verbundenheit und weltweiter Ausdruck der Gemeinsamkeit im Glauben an die Auferweckung des Sohnes Gottes. Der Sonntagsgottesdienst ist ein ökumenisches Signal. Auch wenn wir nicht gemeinsam die Eucharistie feiern, wissen wir uns doch mit den Christen aller Konfessionen rund um den Erdkreis verbunden in der wöchentlichen Feier der Auferstehung Jesu, die sich wie eine Kette um den Globus spannt.
Natürlich stellt sich angesichts des Mangels an Personal und Gläubigen die Frage, ob wirklich noch jeden Sonntag in allen Kirchen Gottesdienst gefeiert werden muss. Das wird wahrscheinlich auch deshalb nicht möglich, weil immer öfters die Ehrenamtlichen fehlen, die als KüsterInnen, LektorInnen oder OrganistInnen mithelfen, die Gottesdienste würdig zu feiern. Darüber hinaus ist der Blick in leere Reihen am Sonntagmorgen kein Motivationsschub für Priester, Diakone oder die LeiterInnen von Wortgottesfeiern. Wir werden gezwungen sein, darüber nachzudenken, ob es in mancher Gemeinden nicht angebracht ist, weniger Sonntagsgottesdienste zu feiern. Ich gebe zu, dass ich das kritisch sehe, und halte dagegen, dass, sobald eine Regelmäßigkeit aufgehoben ist, der Schritt zur gänzlichen Abschaffung nicht weit ist.
Generell halte ich am Sonntagsgottesdienst fest. Er steht gar nicht in unserer Verfügbarkeit. Dabei geht es nicht um eine von der Kirche verordnete Sonntagspflicht. Es ist eine innere Sehnsucht, der ich folge, nicht eine äußere Gesetzgebung. „Ohne Gottesdienst ist es für mich kein Sonntag“, so die Haltung vieler Christen.
Einerseits bedeuten die kümmerlichen Prozentzahlen, dass immer noch jeden Sonntag rund 1,9 Millionen Christen einen Gottesdienst mitfeiern. Ich kann mir keine Gruppe oder Veranstaltung in diesem Land vorstellen, die in dieser Regelmäßigkeit ähnlich viele Menschen bewegt. Nur über den Gottesdienst lernt i.d.R. ein Außenstehender, z.B. auch Zugezogenen, die Kerngemeinde überhaupt kennen. Hier feiern wir Gott in unserer Mitte und stellen nicht politische oder gesellschaftliche Diskussionen ins Zentrum.
Andererseits übersieht Frau Jacobs die rund 700.000 Menschen, die jeden Sonntag den Gottesdienst im ZDF folgen, und die vielen, die Gottesdienste im Internet oder am Radio mitfeiern. Die o.g. 2 bzw. 6 Prozent sind auch keine fest geschlossene Gruppe. Die wöchentliche Teilnahme ist vielen Christen nicht möglich, der Kreis derer, die also Gottesdienste am Sonntag z.B. zweimal im Monat mitfeiern, zeigt sich viel größer.
Es ist die Feier, zu der der Herr der Kirche sein Volk ruft. Deshalb kann die Kirche nicht einfach auf den Sonntagsgottesdienst verzichten, weil sie besseres zu tun hat. Es ist die Mitte des Lebens einer Gemeinde und des eigenen Glaubens-leben für viel mehr Christen, als wir in Statistiken benennen können.
Monsignore Wilm Sanders, lange Zeit Geistlicher Rektor der Katholischen Akademie Hamburg, eröffnet noch eine weiterführende Sicht auf den Sonntag als Hinweis auf die Zukunft: „In den ersten christlichen Jahrhunderten nannte man den Sonntag oft den „achten Tag“, um an die österliche Vollendung zu erinnern. Wenn man am vorausgehenden Freitag besonders des Leidens und Todes Christi gedachte, dann musste der Tag der Auferstehung den Schlusspunkt der Wochenfeier bilden. Man wollte damit zugleich ausdrücken, dass der Sonntag über den Sabbat hinausführt: Gott hat am siebten Tag vom Werk der Schöpfung geruht, aber am Sonntag, am Tag der Auferstehung Christi, sein Werk weitergeführt und eine neue Schöpfung begründet. Der Sonntag als der achte Tag der Woche ist somit immer auch Hinweis und vorweggenommene Feier der kommenden Herrlichkeit.“ (CiG 10/2021)
Sollen wir den Sonntagsgottesdienst abschaffen? Die Frage brauchen wir nicht zu diskutieren. Sollen wir ihn verändern? Qualitätskontrolle tut unserem Feiern immer gut. Manchmal schleifen sich Routine und Erstarrung ein, die teilnahmslos machen und die Begeisterung ersticken. Sollen wir ihn vertiefen? Zu jeder Zeit! Wir bleiben dem Geheimnis des lebendigen Gottes auf der Spur und nie kommen wir ihm näher als der Feier des Gottesdienstes am Tag des Herrn, der uns schon die Feier der kommenden Herrlichkeit ahnen lässt. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer