Liebe Schwestern und Brüder
„Wenn ich sonntagmorgens auf dem Spielplatz sitze, mit einem Mettbrötchen neben mir auf der Bank, einem Cappuccino in der Hand, den Kindern auf dem Klettergerüst bei ihren mutigen Kunststücken zusehe, dann höre ich in der Kirche nebenan die Glocken läuten. Mein Leben lang hat mich dieses Läuten gerufen: Auf freundliche, liebevolle Weise erinnert meine Glaubensgemeinschaft lautstark daran, dass es Zeit wird – für mich und Gott. Zusammenzukommen, still zu werden, dankbar zu sein. Und obwohl der Impuls in mir immer noch da ist, stehe ich sonntagmorgens von der Spielplatzbank nicht auf. Ich gehe nicht in die Zehnuhrdreißig-Messe, nicht in die um elf und auch nicht in die um achtzehn Uhr. Wie ist es so weit gekommen? Dass ich kaum noch in Gottesdienste gehe?“
Mit dieser Frage an sich und ihre Leser eröffnet die Autorin Regina Laudage-Kleeberg ihr Buch „Obdachlos katholisch: Auf dem Weg zu einer Kirche, die wieder ein Zuhause ist.“ (München 2023). Sie hat lange für das Bistum Essen gearbeitet und dann 2022 ihren „geliebten“ Job gekündigt, weil sie sich innerlich von der Institution Kirche zu weit entfremdet hatte. Sie macht bei der Beschreibung ihres Weges sehr deutlich, dass sie sich immer noch katholisch fühlt, katholisch zu sein, ihr gut tut und sie auch noch Mitglied der katholischen Kirche ist, aber inzwischen ohne Zuhause in der Institution ist. Sie stellt im Rückblick fest: „Mein katholisches Odachloswerden war und ist ein schleichender Prozess. Es ist nicht plötzlich passiert: Wohnung weg. Und zack!“ Vielmehr beschreibt sie ein sehr ambivalentes Gefühl im Blick auf Kirche: Katholisch-sein gehört zu ihrer Biographie, aber sie fragt sich immer öfters „will ich da wirklich dazugehören“? Ihr Dilemma fasst sie zusammen in de Wahrnehmung „obdachlos katholisch zu sein“, also immer noch beheimatet in der Spiritualität, den Riten und Ritualen der Kirche, aber heimatlos geworden in der konkreten Kirche mit ihren Ämtern, Strukturen und ihrer Geschichte. Ich will nicht werten, ob ihr Empfinden berechtigt ist oder nicht. Das ständige Polemisieren vieler Kritiker gegen Leitung und Strukturen erscheint mir auch manchmal als bequeme Rechtfertigung für die eigene Abwendung und mangelnde Bereitschaft, sich einzubringen. Dagegen beschreibt die Formulierung „obdachlos katholisch“ m.E. die Erfahrung vieler Menschen, die noch in der Kirche sind oder sie bereits verlassen haben und spüren, dass man nicht so einfach von ihr loskommt. Es fällt ja auf, dass über die Kirche so leidenschaftlich gestritten wird wie über wenige andere Themen. Das deutet für mich auch darauf hin, dass Menschen nicht einfach einem Verein den Rücken kehren, in dem sie nicht mehr aktiv sind, sondern dass sie wirklich etwas verlieren: einen Zufluchtsort für ihre Sehnsucht nach Sinn, Orientierung und Geborgenheit. Sicher verlassen viele Menschen die Kirche, weil sie das nicht mehr finden. Die Aufregung über Skandale und mangelnde Reform-fähigkeit ist dann das auslösende Moment, aber nicht der einzige Grund.
Es ist unausweichlich für die Kirche, sich auf allen Ebenen die Frage zu stellen, wie sie wieder Obdach für die Seele werden kann. Das trifft nicht nur den Papst und die Bischöfe, sondern auch uns als Gemeinde vor Ort, die Haupt- und die Ehrenamtlichen.
Das Evangelium am 2. Sonntag im Jahreskreis erzählt davon, wie Menschen ein Zuhause im Glauben finden. „Was sucht ihr?“, fragt Jesus die Jünger des Johannes. Sie antworten ihm: „Rabbi, wo wohnst du?“ Er sagte zu ihnen: „Kommt und seht!“ Am Ende wird Andreas seinem Bruder Simon bekennen: „Wir haben den Messias gefunden.“
Es legt sich nahe hinter dem kurzen Bericht des Johannes ein längeres und tieferes Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern zu vermuten. Allein die Tatsache, dass Johannes sie schickt, weist daraufhin, dass sie Suchende sind. Sie sind bei Johannes noch nicht ans Ziel gekommen. Er konnte sie mit seiner Gerichtspredigt beeindrucken, aber nicht wirklich beheimaten. Sie müssen weiter suchen und entdecken dabei Jesus. Die Begegnung, die uns das Evangelium nur in wenigen Sätzen schildert, muss in ihnen die Sicherheit geweckt haben, bei Jesus eine geistige Heimat zu finden. Jesus, der im Johannesevangelium eher ruhelos auf dem Weg zwischen Galiläa und Jerusalem geschildert wird, bietet ihnen Wohnung an für ihre Herzen. Sie werden alles verlassen und doch zuhause sein. Das klingt paradox, ist aber leicht nachzuvollziehen. Andreas, Simon und alle, die ihnen in den nächsten Zeilen folgen werden, spüren, dass sie in ihren bisherigen Lebenszusammenhängen nicht mehr aufgehoben sind. Weil sie sich durch Jesus verstanden fühlen und in seiner Botschaft eine Heimat für ihre Hoffnungen gefunden haben, können sie auf alle Sicherheiten verzichten und sich mit ihm auf den Weg machen. Sie sind nicht mehr wohnungslos in ihren vier Wänden, sondern haben ein Obdach für die Seele. Nicht alles, wird so laufen, wie sie es sich vorstellen, aber am Ende können sie dem vertrauen, der ihnen verspricht, dass er ihnen ein Wohnung im Haus des Vaters bereiten wird. Sie sind bei Jesus zuhause, weil er eine Heimat im Vertrauen auf den Vater hat, von dem er sich gesandt weiß.
Sie kennen wahrscheinlich das tiefsinnige und humorvolle Wort des bayerischen Komikers und Philosophen Karl Valentin: „Heute Abend besuche ich mich. Ich hoffe, ich bin daheim.“ Ich muss nicht lange nachdenken um Situationen zu finden, in denen ich neben mir stehe, aus der Haut fahre, nicht bei mir bin: Ärger, Hektik, Stress, Überforderung, Unzufriedenheit, Neid entfremden mich von mir selbst. Immer dann aber, wenn ich nicht zuhause bin, dann halte ich auch andere Menschen ab. Ich kann keine Geborgenheit ausstrahlen, wenn ich selbst in mir keine Wärme, Versöhnung, Freude zulasse. Viele haben es schon erlebt: Bin ich bei mir, dann kann ich auch mit anderen sein. Stehe ich neben mir, dann treibe ich andere von mir weg. Jesus muss ein Mensch gewesen sein, der in sich zuhause war, weil er sich beheimatet wusste beim Vater. Nur so konnte er Suchende gewinnen, sich aufzumachen und einen Weg der Unsicherheit zu gehen im Glauben an sein Wort: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“
„Obdachlos katholisch“ – Manchmal glaube ich, dass die Kirche sich von Karl Valentin den Spiegel vorhalten lassen muss. Ist sie wirklich daheim bei sich, oder lässt sie sich durch Konflikte um Zweitrangiges so binden, dass sie sich von ihrem innersten Kern Gott entfremdet? Wir streiten um Ämter, um Moral, um Fragen der Disziplin und letztlich immer um das eine Thema Macht und vergessen dabei zu oft, wo wir zuhause sind: auf dem Weg der Suche von Menschen nach Lebenssinn und Orientierung in ihrer Sehnsucht nach Leben in Fülle. Wir verteidigen geschichtliche Errungenschaften, die sicher in ihrer Zeit einmal wichtig waren, wie z.B. das zölibatäre Leben oder das Männern vorbehaltene Weiheamt, aber heute nichts mehr wesentliches für die Sendung der Kirche beitragen, und vergessen das Beten, Stillwerden und Hören mit den Menschen, die die Begegnung mit Gott suchen. Das Besondere der Kirche ist nicht eine Hierarchie, die sich über zwei Jahrtausende erhalten hat, sondern ihr Platz im ständigen Weg des Menschen vom Suchen zum Finden Gottes als die Herausforderung menschlicher Existenz. Kirche kann noch immer ein guter Ort sein, Menschen Obdach zu geben. Dafür gilt es mutig Angebote und Orte zu schaffen und nicht ängstlich auf Statistiken zu starren. „Kommt und seht“ – das ist die Einladung einer Kirche, einer Gemeinde, an Menschen, die sich unbehaust fühlen in dieser Welt, Gott in unserer Mitte zu entdecken und so selbst zu sich zu finden und im eigenen Leben daheim zu sein. Amen.
Sven Johannsen, Pfr.
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