Liebe Schwestern und Brüder
„Nichts geht mehr“ – das haben wir in der letzten Tage öfters hören und sagen müssen.
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Am Donnerstagabend standen für 24 Stunden die Räder still, denn die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer ging wieder einmal in den Warnstreik. Mancher Bahnnutzer, ausgestattet mit der nötigen Portion Sarkasmus, den es als Kunde der DB braucht, stellte keinen Unterschied zu normalen Tagen fest: Stundenlange Verspätungen, ausfallende Züge und leere Bahngleise gehören für Pendler auf den Bahnhöfen zum Alltag. Dennoch ärgerten sich viele, dass gerade in der Adventszeit wieder nichts ging.
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Der Wintereinbruch in Bayern hat in den vergangenen Tagen v.a. Kinder in München und Südbayern erfreut, da sie nicht in die Schule mussten. Verschneite Straßen, umgefallene Bäume und Glätte zwangen viele Menschen ins Homeoffice und leerten Büros und Unternehmen.
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Seit Wochen ist es für Fahrradfahrer in Lohr eine spannenden Frage, welche Straße heute aufgerissen wird und man gezwungen wird, abzusteigen, umzukehren oder abenteuerliche Ausweichmanöver in Kauf zu nehmen, weil freundliche Bauarbeiter ihren Fuhrpark quer über Fuß- und Radwege aufstellen.
„Nichts geht mehr“ – Frust, Ärger und Ratlosigkeit begleiten im Alltag diese Erfahrung.
„Nichts geht mehr“ – so lässt sich das Grundgefühl des Volkes Israel beschreiben, das heute die Worte des Propheten Jesaja hört. Seiner freundlichen Trostbotschaft geht eine langes Schweigen und eine schier endlose Depression voraus. Seit dem 8. Jahrhundert warnen die Stimmen, die sich in den ersten 39 Kapitel seines Buches sammeln, vor einer zu großen Sicherheit. Die Assyrer, ein starkes Volk aus dem Norden, haben zwar Jerusalem verschont und nicht erobert, aber die Prophetengruppe redet an gegen eine Überheblichkeit im Blick auf die Gefahrenlage. Immer wieder erinnern scharfe Worte in den ersten Kapiteln daran, dass die Sorge vor einem Angriff noch wie eine dunkle Wolke über Israel liegt. Dann bricht die Katastrophe 586 v. Chr. herein: Die Babylonier erobern Jerusalem, zerstören den Tempel und führen einen großen Teil der Bevölkerung ins Exil weg. Die Stimme des Propheten schweigt. Über Jahrzehnte lastet auf den Menschen im Exil ein verzweifelte Stille. Gott spricht nicht mehr. Sie haben seinen Warnungen durch die Propheten einfach ignoriert und er überlässt sie scheinbar ihrem Schicksal in der Fremde. Nach langem grollendem Schweigen spricht Gott wieder durch einen neuen Propheten, der ab dem 40. Kapitel zum Botschafter wird. Seine Stimme ist ganz anders. Die donnernde Gerichtsrede wandelt sich in sanfte Worte der Zuwendung, die Georg Friedrich Händel am Beginn seines Messias so eindrucksvoll vertont hat: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und ruft ihr zu, dass sie vollendet hat ihren Frondienst, dass gesühnt ist ihre Schuld, …“
Es ist zwar noch nicht alles gut, aber es geht wieder etwas. Noch ist Israel gezwungen, in der Fremde zu leben, Jerusalem und der Tempel liegen in Trümmern und das Land verödet. Aber die Schockstarre, die so lange das Gottes Volk lähmte, ist aufgebrochen. Nicht mehr Tiraden von Belehrungen und des Tadel prasseln auf sie nieder, sondern Worte der Zuwendung ermutigen nun zu einer Hoffnung auf einen neuen Anfang.
Heruntergebrochen auf die alltägliche Erfahrung vieler Menschen erinnert es mich an Kinder und Jugendliche, die vor einer Schulaufgabe tagelang von den Eltern ermahnt wurden, endlich sich hinzusetzen und zu lernen, aber jeden Ratschlag und Warnung ignorierten und lieber spielten oder mit FreundInnen abhängten. Dann bricht die Katastrophe herein: nichts geht mehr, die Schulaufgabe wird zum Offenbarungseid. Natürlich gibt es zunächst Ärger mit den Eltern: „Wir haben dir es doch gesagt.“ Aber irgendwann folgt der Umschwung. Tröstende Worte, eine Umarmung: „Wir bekommen das hin. Die nächste Arbeit wird besser.“ Noch ist nichts gerettet, aber die Tür zur Zukunft wurde weit geöffnet.
In dieser menschlichen Erfahrung spiegelt sich die Botschaft des Advents wieder: Die Tür zur Zukunft wird aufgemacht.
Der Täufer Johannes kommt als Vorbote eines gewaltigen Umbruchs und eines abrupten Neuanfangs im Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Johannes steht noch ganz unter dem Diktat, Fehler zu vermeiden und Sünden zu bereuen. Aber er kündigt auch schon an, dass er und seine Botschaft nichts sind im Blick auf den, der nach ihm kommt. Jesus wird die Schuld ernst nehmen und Menschen auffordern, nicht mehr zu sündigen, aber er wird mit den ersten Worte, die er im Evangelium des Markus spricht, schon das Gefängnis des Versagens und der Perspektivenlosigkeit aufbrechen und ankündigen, dass eine neue Zeit angebrochen ist, das Reich Gottes nahe ist und der Mensch wieder Hoffnung haben darf. „Es geht noch was“, so werden es Menschen aus den Predigten Jesu heraushören, Kranke in seinen Heilungen erfahren und Menschen am Rande, die sich abgestempelt und ausgegrenzt fühlen, in seiner Zuwendung erleben. Für mich ist das Große der christlichen Botschaft das Gegenprogramm Jesu in einer Zeit, in der alle nur den Untergang und den Stillstand ankündigen. „Es geht noch etwas“ in meinem Leben, im Leben mit den anderen Menschen und im Leben mit Gott. Ich sitze manchmal im tiefen Tal der Niedergeschlagenheit, aber ich bin nicht verloren in der Sackgasse der Hoffnungslosigkeit.
Es geht nicht um Vertröstung, sondern Ermutigung. Das Bedrohende wird gesehen, aber dem Hoffnungsvollen mehr Wert und Licht gegeben. Das ist der Sinn der frohen Botschaft, die wir hören und die wir weitertragen.
Im gestrigen Newsletter hat die ZEIT ganz bewusst nicht von Krieg und Streit berichtet, sondern 15 gute und inspirierende Nachrichten aufgezählt, u.a. dass vielen Steuerzahlern 2024 mehr vom Gehalt bleibt, eine steigende Zahl von jungen Menschen sich wieder für Bücher und Kinobesuche interessieren und die USA mehr gegen klimaschädliches Methan tun wollen. Nicht jede Nachricht bricht schon das Eis, aber der Blick darauf, dass es viele gute Botschaften gibt, hilft angesichts der Weltlage nicht in stille Verzweiflung zu verfallen.
Als Christen, die den Advent begehen und uns auf die Ankunft Jesu vorbereiten, haben wir v.a. eine frohe Botschaft, die ermutigen und inspirieren soll: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.“ Es geht noch etwas, weil Gott mit uns ist. Wir sind nicht dem Untergang geweiht.
Vielleicht wäre es auch auch eine adventliche Haltung, sich nicht auf die schlechten Nachrichten zu fixieren, sondern verstärkt nach den guten Nachrichten zu suchen und sie selbst weiterzugeben, also eine Art Fasten, nicht Ignorieren, das uns mehr das Gute erkennen lässt, weil wir das Böse nicht in den Vordergrund stellen wollen.
Als glaubende Menschen drohen wir nicht „Es geht nichts mehr“, sondern ermutigen „mit Gott geht immer noch etwas.“ So können wir ihm entgegengehen, weil er schon auf uns zukommt. Amen.
Sven Johannsen, Pfr. Lohr
Die Predigt als Download