Predigt 16. Sonntag B “Werkzeug der Einheit”

Predigt 16. Sonntag im Jahreskreis B

Mache dein Volk in unserer zerrissenen Welt

zum Werkzeug der Einheit und des Friedens.“

Liebe Schwestern und Brüder

Eigentlich sind wir nicht unterschiedlicher Meinung, sondern wir hassen uns nur“, so karikiert der Ethiker und Philosoph Hanno Sauer in einem Interview ein Phänomen, das unsere Gesellschaft weltweit immer mehr bestimmt: Die Tendenz zur Polarisierung, also zur Spaltung. (Sauer, H.: Sind wir zu moralisch? SRF v. 8.10.2023)

Wir sehen und hören es in den täglichen Diskussionsrunden: Lautstark steigen die politischen Kontrahenten miteinander in den Ring und debattieren über politische Strategien. Meist werden die Kontroversen so hart geführt, dass man unüberbrückbare Unterschiede in der Haltung und in der Meinung annehmen muss. Hört man aber die Argumente genau an, dann findet man keine so großen Differenzen in den politischen und gesellschaftlichen Ansichten der Politiker der verschiedenen Couleur. Der Verdacht legt sich nahe, dass die Konflikte meist nicht unterschiedlichen Ansichten geschuldet sind, sondern vielmehr dem Wunsch, aus der Diskussion als Sieger herauszugehen. Dazu werden Kontrahenten diffamiert und beschuldigt, das Land, die Kirche, die Gesellschaft zu zerstören und v.a. zu spalten, um selbst eine klare Trennlinie zwischen sich und dem Gegner zu ziehen. In der Regel kommen aus den vielen Talk- und Diskussionsrunden in den Medien keine wirklichen Impulse für die Zukunft, sondern nur Punktsiege für Menschen, die am Ende Recht behalten wollen. Hans A. Wüthrich, Schweizer Managementforscher und Professor für Internationales Management an der Universität der Bundeswehr München, hat das, was uns täglich im Fernsehen präsentiert wird, in einem Aufsatz für die Webseite „feinschwarz“ treffend analysiert und mit den Worten bilanziert: „Welterklärende erklären Welterklärenden die Welt. Sie reden nicht, sondern verkünden und verlautbaren. Das Ziel: Mit einer pointierten eigenen Meinung Kante zeigen, Recht haben und die Diskussion gewinnen.“ (www.feinschwarz.net/intellektuelle-bescheidenheit-wege-aus-der-toxischen-polarisierung/)

Genau so kann man die große Versuchung in allen Bereichen unserer Gesellschaft einordnen: Es geht ums „Recht haben“. Für dieses Ziel nimmt man die Spaltung als Mittel zum Zweck nicht nur in Kauf, sondern treibt sie voran. Diese Tendenz zur Polarisierung, um sich am Ende als Sieger zu präsentieren, ist die Kraft, die die Spirale der Unversöhnlichkeit in der Welt, in der Kirche und im eigenen Leben sich unaufhaltsam immer weiter drehen lässt bis zur Eskalation, wie wir es in der vergangenen Woche in den USA miterleben mussten. Es bilden sich Ränder, die die Mitte, die den Ausgleich sucht, aufreiben, weil es darum geht, sich durchzusetzen. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern leider auch für die Kirche. Wenn zwei Katholiken heute den Begriff „Synode“ verwenden, dann meinen sie nicht mehr das Gleiche, sondern können sicher sein, dass sie Zündstoff für hitzige Debatten ins Feuer werfen. Wüthrich rät gerade der Kirche in diesem sich verschärfenden Prozess der Spaltung zu intellektueller Bescheidenheit als Weg aus der Polarisierung. Er meint damit eine souveräne Haltung, die die Ich-Zentrierung überwindet, und darauf verzichtet, alles deuten und erklären zu müssen im Sinne der eigenen Wahrheit. Es geht um eine Form der Demut, die sich in der Haltung ausdrückt, dem, der anders denkt, mit Empathie und auf Augenhöhe zu begegnen. Wer immer darauf besteht, Recht zu haben, kann nicht klüger werden und so nicht wachsen und sich verändern. Aber genau darin besteht Nachfolge, die Jesus unter das Wort „Kehrt um“ stellt.

In der heutigen Lesung aus dem Epheserbrief werden wir in einen solchen Prozess der „intellektuellen Bescheidenheit“ hineingenommen.

Die Metropole Ephesus boomt als Hauptstadt der Provinz Asia unter Kaiser Augustus zu einer Weltstadt mit einer enormen kulturellen und politischen Bedeutung für das römische Reich im 1. Jh. n. Chr.. Ephesus ist ein Schmelztiegel der Kulturen, Völker und Weltanschauungen. Schon früh gewinnt hier der christliche Glaube durch die Verkündigung des Apostels Paulus in allen Mileus Anhänger. Sie kommen einerseits aus dem Judentum, sind also mit jüdischen Ritualen und Gesetzen vertraut, und andererseits aus dem Heidentum, das man nicht als „gottlos“ bezeichnen darf. Beide Gruppen, Juden-Christen und Heiden-Christen, bilden die Gemeinde von Ephesus. Das ist lange kein Problem. Paulus garantiert mit seiner Verkündigung des Evangeliums Jesu, dass keine Unterschiede zwischen ihnen gemacht werden. Später aber vertieft sich der Graben zwischen Juden- und Heiden-Christen. Möglicherweise fühlen sich die Letztere herabgesetzt und ausgegrenzt, weil ihnen die Verbindung zur Religion fehlt, aus der Jesus stammt. Es ist denkbar, dass elitäre Kreise aus der judenchristlichen Gruppe darauf Wert legen, dass sie zum auserwählten Volk gehören und so auch in der Deutung des Glaubens mehr Autorität beanspruchen können als andere. In jedem Fall driften die beiden Gruppen so auseinander, dass manche Heidenchristen beginnen, sich wieder heidnischer Alltagspraktiken zu bedienen und sich so weit der nichtchristlichen Umwelt annähern, dass die Gemeinde nicht mehr als Einheit erkennbar ist. Ganz sicher kommt es zur inneren Entfremdung, die mit dem Gefühl der Überlegenheit einerseits und dem der Herabsetzung andererseits zu tun hat. Der Autor übergeht die Unterschiede nicht. In dem Gegensatzpaar „Nahe“ und „Ferne“ verdeutlicht er, wo jeder herkommt. Die einen, Juden-Christen, gehören zu denen, die Gott schon immer nahe waren durch das Gesetz, die Propheten und den Tempel. Die anderen, Heiden-Christen, gehörten zu den Fernen. Der Autor beschreibt in den Versen, die der Lesung vorangehen, ihre Situation vor dem Christwerden als Ausschluss aus dem Bund der Verheißung und als Erfahrung der Hoffnungslosigkeit. Sie sind durch die Taufe nicht einfach in die jüdisch-christliche Religion aufgenommen worden. Vielmehr hat Gott durch Jesu Kreuz und Auferstehung aus beiden Teilen seine Gemeinde gebildet. Sie sind neue Menschen, die alle den einen Geist empfangen haben. Auch die Christen, die aus dem Heidentum kommen, sind, so lesen wir es einige Zeilen später, nicht mehr Fremde, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes. Das bleibt aber so lange nur Theorie bis auch die erste Gruppe bereit ist, intellektuell bescheidener zu werden und sich nicht als „näher“ oder „besser“ zu verstehen. Gerade die Kirche lebt von dieser Kraft, auf das „Recht haben“ zu verzichten, um zur Einheit zu finden. Motor ist der Geist Gottes, der ohne Unterschied jedem geschenkt wird. In der heutigen Präfation des Hochgebets beten wir: „Wir danken dir, gütiger Vater, und preisen dich, denn durch die Frohe Botschaft deines Sohnes hast du die Menschen aus allen Völkern und Sprachen vereint in der Gemeinschaft der Kirche. Durch sie, die aus der Kraft deines Geistes lebt, führst du alle Menschen zur Einheit. So bezeugt die Kirche deine Liebe und schenkt allen die Hoffnung auf ewige Vollendung. Sie wird zum Zeichen deiner Treue, die du uns für immer versprochen hast in unserem Herrn Jesus Christus.“

Durch die Kirche führst du alle Menschen zur Einheit“, das ist ihr großer Auftrag. Paulus beschreibt sein Selbstverständnis als Apostel: „Wir sind also Gesandte an Christi statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2Kor 5,20). Der Kirche ist der Dienst der Versöhnung aufgetragen. Sie ist in die Welt gesandt, um aus der Erfahrung, dass in ihr versöhntes Miteinander möglich ist, die Menschen zu ermutigen, zu einer Einheit in Verschiedenheit zu finden.

Das kann sie aber nur, wenn sie selbst diese „intellektuelle Bescheidenheit“ lebt, die nicht zuerst danach sucht, die eigene Wahrheit durchzusetzen, sondern im Geist Gottes zueinander zu finden.

Das gilt auf der Ebene kirchlicher Strukturen nicht weniger als für uns persönlich. Wie kann der, der selbst in Unfrieden mit sich und anderen lebt, helfen, Gegensätze in der Kirche zu überwinden? Viele von uns sind genervt vom Hickhack zwischen Rom und den Gremien in der deutschen Kirche, von den teilweise offen ausgetragenen Konflikten zwischen den Bischöfen und vom ewigen Streiten zwischen „traditionelleren“ und „moderneren“ Katholiken. Aber es ist auch eine bleibende Herausforderung, die eigene Fähigkeit zu Versöhnung zu überprüfen. Wie sehr bestehe ich selbst, sogar in der eigenen Familie, darauf, immer Recht zu haben und meine Ansicht durchzusetzen. Zu den schmerzlichsten Erfahrungen als Pfarrer gehört es, miterleben zu müssen, wie sich Familien zerstreiten, weil Kinder oder Eltern nicht bereit sind, über den eigenen Schatten zu springen und einmal darauf zu verzichten, Recht zu behalten. Es ist erschreckend zu sehen, wie Familienangehörige lieber einander anschweigen oder sogar den Kontakt verweigern als den ersten Schritt auf den anderen hin zu wagen, auch wenn er im Unrecht ist. Ich weiß, dass viele Eltern furchtbar darunter leiden, dass ihre Kinder den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben, oft wegen Nichtigkeiten oder manchmal sogar aus Gründen, die sie selbst nicht kennen. Sie haben Schritte der Versöhnung gewagt und wurden zurückgewiesen. Auch nach vielen Jahren schmerzen diese Erfahrung, weil man im Innersten das Wissen hat, dass man zusammengehört, aber machtlos ist gegen sture Unversöhnlichkeit. Andererseits erlebe ich aber auch Eltern, die sich ihren Kinder gegenüber verweigern, weil sie meinen, dass ihnen Undankbarkeit und Ungerechtigkeit geschehen sind. Lieber vereinsamt und verbittert man dann statt das, was geschehen ist, auf sich beruhen zu lassen. Unversöhnlichkeit kann von beiden Seiten kommen. Sie ist aber immer auch eine Glaubensfrage, denn Gott hat uns seine Versöhnung in Jesus Christus angeboten und gezeigt, dass er bereit ist, dafür alles zu wagen. Nur eine Kirche, die sich aus Menschen bildet, die Einheit über Rechthaberei setzen, kann auch wirklich das sein, wozu sie Gott bestimmt hat und um was wir heute beten: „Mache dein Volk in unserer zerrissenen Welt zum Werkzeug der Einheit und des Friedens.“

Ziel kirchlicher Verkündigung in dieser Zeit ist es, die Menschen zu einer neuen Haltung zu ermutigen, die nicht über Unterschiede hinweggeht, aber das Verbindende betont, letztlich Versöhnung ermöglicht. Einen Dienst an der Einheit leistet die Kirche, wenn sie den Menschen zu einer Einstellung hilft, die den andern nicht nur das Leben lässt, sondern den Wunsch fördert, mit ihm zu leben: „Wir sind zwar unterschiedlicher Meinung, aber wir hassen uns nicht, sondern achten und ergänzen uns als Menschen, geschaffen nach dem Abbild Gottes.“

Manchmal kann diese Versöhnungsarbeit ganz einfach bei uns beginnen, wie es Susanne Niemeyer beschreibt:

Dem Griesgram ein Lächeln schenken, den Kleinkrämern ein weites Herz. Der Treulosen eine zweite Chance, dem Bauch keine Diät. Der Vergangenheit ein Schwamm-Drüber, den Spinnen ein Lebensrecht. Den Kriegstreibern Marzipangewehre, den Luftiküssen freies Geleit. Allen Schuldnern ein Nachsehen, dem Spiegelbild einen Augenblick. Dem Schmerz einen Samthandschuh, den Verbannten einen Platz am Küchentisch.“ (CIG 2017, Heft 53, S. 581-581)

So beginnt Versöhnung. Amen (Sven Johannsen, Pfr.)

16 Einheit Epheserbrief