Dazu muss man (k)ein Prophet sein – Predigt 4. Sonntag B

Liebe Schwestern und Brüder

Man muss kein Prophet sein, um bereits heute sicher sagen zu können, wie nach der Wahl im November der künftige US-Präsident heißen wird. Die bisherigen Vorwahlen haben bereits bestätigt, dass es auf einen Zweikampf Duells Trump – Biden hinausläuft und dessen Ausgang steht sicher fest.

Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass in den nächsten Jahren der Einfluss der christlichen Kirchen in unserem Land stetig abnehmen wird. Hohe Austrittszahlen und wenige Taufen bei gleichbleibender Sterbequote machen die Rechnung einfach und stecken den Horizont ab für eine Gesellschaft, in der Christen zur Randerscheinung werden.

Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass die Gräben zwischen links und rechts, zwischen reich und arm, zwischen Gewinnern und Verlierern in unserem Land noch größer werden. Die soziale Schere klafft immer weiter auseinander und sorgt dafür, dass die Spannungen größer und heftiger werden.

Man muss kein Prophet sein, um all diese Entwicklungen vorauszusehen. Aber wozu muss man dann ein Prophet sein? Ist es nicht die Aufgabe eines Propheten, die Zukunft vorauszusagen? Wenn heute Gott dem Volk verspricht, einen Propheten wie Mose neu zu erwecken, dann taucht doch vor dem geistigen Augen eine Art Wahrsager auf, der keine Glaskugel brauch und keine Karten legen muss. Propheten sehen künftige Dinge, die anderen noch verborgen sind, so die landläufige Vorstellung, wenn die Bibel von ihnen erzählt.

 

Tatsächlich künden die Propheten Zukunft, aber sie sind keine Wahrsager, Meinungsforscher oder Demoskopen, die Trends und Entwicklungen offenlegen. Sie haben einen festen Platz im Volk Israel, gehören aber zu allen Religionen und Kulturen des Nahen Osten. Mose gilt in der biblischen Überlieferung als der Prophet schlechthin, aber es ist alles andere als ein Weissager. Mose ist Mittler zwischen Gott und seinem Volk. Er wird eingesetzt, weil das Volk vor dem Bundesschluss darum bittet, nicht selbst mit Gott reden zu müssen aus Angst, unterzugehen. Der Prophet Mose vertritt das Volk vor Gott und kündet dem Volk die Worte Gottes und sitzt dabei meist zwischen allen Stühlen. Wir kennen die frühen Propheten, von denen die Geschichtsbücher der hebräischen Bibel berichten:  Samuel, der Saul und David zu Königen salbt, der Hofprophet Nathan, der David nach der Tötung des Urija mit Gottes Urteil konfrontiert, und Elija, der einsame Kämpfer gegen die Baalspriester, aber auch die Prophetinnen Mirjam, die Schwester des Mose, die Richterin Debora und Hulda, die Konkurrentin des Jeremia. In erster Linie aber denken wir an die sog. Schriftpropheten, deren Verkündigungen Eingang in den nach ihnen benannten Bücher gefunden haben: Jesaja, Jeremia, Ezechiel und die „kleinen“ Propheten, die das sog. „Zwölfpropheten-Buch“ füllen. Daneben gab es aber sehr viele Propheten in Israel, tätig im Tempel oder am Hof des Königs, beheimatet in Schulen und Vereinigungen, gebildete Männer und Frauen, die meist im Dienst des Staates und der Religion standen. Die Propheten, deren Bücher in unserer Bibel gesammelt sind, waren dagegen Einzelgestalten, die als Querdenker und Kritiker erbitterten Widerstand leisteten gegen die offizielle Religion und Politik der Könige, Priester und Beamten. Sie zeigen sich uns oft als tragische Gestalten wie Jeremia, dessen Schicksal einen Bibelleser noch immer anrührt, wenn man mitverfolgt, wie er versucht seiner Berufung zu entkommen mit dem Argument „Ich doch noch zu jung; ich kann nicht reden.“ Gott aber lässt ihm keine Chance. Sein Weg wird bitter und lässt ihn verzweifelt klagen: „Ich hörte die Verleumdung der Vielen: / Grauen ringsum! Zeigt ihn an! / Wir wollen ihn anzeigen. Meine nächsten Bekannten / warten alle darauf, dass ich stürze: Vielleicht lässt er sich betören, / dass wir ihn überwältigen und an ihm Rache nehmen können.“ Am liebsten würde er vor Gott und seinem Auftrag davonlaufen und kommt doch noch nicht los. Man spielt ihm übel mit: nicht nur Spott und Hohn werden über ihn ausgegossen, er erleidet Gewalt und Misshandlung. Kein Job, den man unbedingt haben möchte. Die Berufung zum Propheten ist nie ein weltlicher Aufstieg, aber eine Aufgabe, die man auch nicht ausschlagen kann, denn Gott lässt seinen Propheten nicht aus. Der Grund für dieses Leben als Einzelgänger am Rande der Gesellschaft, begleitet von Mobbing und Feindschaft, ist die Verpflichtung gegenüber dem Willen Gottes, der den Propheten in Dienst genommen hat. „Berufene Rufer“, „nebi’im“, nennt die Bibel diese einsamen Gottesmänner. Sie alle verbindet ein einschneidendes Erlebnis in ihrer Biographie, auf das sie nicht hinarbeiten, sondern das ihnen widerfährt und ihr künftiges Leben bestimmt. Sie reden nie aus sich, sondern immer nur, wenn Gott es ihnen aufträgt. „Wenn Gott nicht spricht, hat der Prophet nichts zu sagen.“ Darum sagen sie auch nicht voraus, was sie in der Zukunft sehen, sondern künden Unheil und Heil an, das Gott seinem Volk vorlegt.

Der Züricher Großrabbiner Michael Goldberger hat den fundamentalen Unterschied zwischen Propheten und Wahrsagern treffend beschrieben: „Wahrsagern und Hellsehern ist – im Gegensatz zu Propheten – eine Überzeugung gemein: Alles ist vorherbestimmt und der Mensch kann den Lauf der Dinge nicht beeinflussen. Die Uhr ist seit der Schöpfung eingestellt und läuft unabänderlich… Prophezeiungen sind die Antithese von Wahrsagerei: Propheten glauben daran, dass der Mensch den Lauf der Dinge ändern kann, weil er moralische Kraft besitzt. Der Prophet verkündet nicht, was passiert, sondern was passieren könnte.“ (Michael Goldberger, Schwarzes Feuer auf weißem Feuer, 2012). Menschen, die die Zukunft vorhersagen wollen, setzen darauf, dass das, was sie prognostizieren, auch eintrifft. Ihr Erfolg besteht darin, dass Voraussagen zutreffen. Der Prophet aber zielt auf die gegenteilige Wirkung. Sein Erfolg besteht darin, dass er die Menschen zur Veränderung bewegt und deshalb möglichst nicht eintritt, was er ankündigt. Es geht um den zentralen Gedanken der Freiheit. Heutige Zukunftsforscher scheinen wenig Vertrauen in die Kraft der menschlichen Freiheit und damit in seine Möglichkeit zur Veränderung zu haben. Der Glaube aber schreibt dem Menschen die Freiheit der Umkehr und der Besserung als wesentliche Eigenschaft zu. Nur weil Gott den Menschen zur Freiheit befähigt hat, ist die Sendung der Propheten, die mahnen, warnen und drohen, sinnvoll. Gott fordert Ernsthaftigkeit und Verantwortung vom Menschen, aber er schreibt ihn nicht ab. Goldberger schreibt: „Der Wahrsager errät die Zukunft. Der Prophet ruft auf, sie zu gestalten.“ Im Horizont dieser prophetischen Berufung können wir die Sendung Jesu im Markusevangelium entschlüsseln. In der Taufe am Jordan hat ihn Gott als seinen geliebten Sohn bestätigt. Nach der Selbstvergewisserung in der Wüste tritt Jesus auf und verkündet die Frohe Botschaft von der Nähe Gottes, die schon spürbar ist. Über die ganze Sendung Jesu setzt Markus die Überschrift „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15) Im heutigen Evangelium wird die Nähe Gottes im Handeln Jesu erlebbar. Mit ihm, der zusagt, dass das Reich Gottes nahe ist, löst sich eine Lawine von Heilserfahrungen, die sich über die Menschen in Galiläa ergießt.

 

Propheten wissen sich von Gott zu den Menschen gesandt, um seiner Botschaft Gehör zu verschaffen. Für diesen Auftrag ist ihnen jedes Mittel recht: Sie schreien auf Marktplätzen, zertrümmern Tongefäße, verteilen Flugblätter oder laufen sogar nackt durch die Stadt. Ihr ganzes Leben kreist um die Erfüllung ihrer Sendung. Seinen Anfang nimmt diese Art der Kommunikation zwischen Gott und seinem Volk mit Mose. Jesus dürfte sich selbst in einer Linie mit den großen Propheten bis zu Mose gesehen haben und die neutestamentlichen Schriften sehen in ihm die Erfüllung der Verheißung eines Propheten und die Überbietung des Mose. Er lehrt mit Vollmacht, also wie ein Prophet und nicht wie ein bezahlter Religionsbeamter. Jesus verkündet das Anbrechen des Reiches Gottes und weissagt nicht zukünftige Ereignisse. In mächtigen Zeichen lässt er die Menschen das Wohlwollen Gottes erleben. Er scheut nicht den Konflikt mit den Mächtigen und geht seinen Weg bis zum Ende, weil er sich dem Willen Gottes, der ihn gesandt hat, unbedingt verpflichtet weiß. Alle Reden und Taten, sein ganzes Leben, zielen darauf ab, eine neue Kommunikationsbasis zwischen Gott und den Menschen zu schaffen und die Menschen zu ermutigen, aufzustehen gegen Unrecht und Egoismus, sich selbst zu verändern und umzukehren und so das Reich Gottes immer mehr erlebbare Wirklichkeit werden zu lassen.

 

Jesus und die Propheten vor ihm bis zu Mose verbinden grundsätzliche Züge, die die

Sendung durch Gott bestätigen:

Sie sind „berufene Rufer“. Sie entwickeln also nicht eigene Vorstellungen, streben ins Rampenlicht und wollen Menschen von ihren Ideen überzeugen, sondern sind unlöslich an den Willen des Vaters gebunden. Sie handeln nicht von sich aus, sondern weil sie nicht anders können.

Sie deuten die Zeichen der Zeit und mahnen zur Veränderung. Sie legen den Finger in die offenen Wunden der Menschheit und bieten Heilung durch Gott an. Sie freuen sich nicht am kommenden Unglück, sondern öffnen einen Notausgang, weil Gott dem Menschen immer in Gnade entgegen kommt. Weder Jesus noch die Propheten schreiben Menschen endgültig ab.

Der Inhalt ihrer Verkündigung ist der Wille Gottes und sein Reich als eine Erfahrung von Gerechtigkeit und Frieden. Leid, Krieg, Ungleichheit, Hass und Ausgrenzung sind immer Symptome der Gottesferne, die der Mensch sucht, um sich selbst zum allmächtigen Herren über das Leben zu machen.

 

Diese Vorgaben weisen der Kirche ihre Aufgabe als Prophetin für die Welt zu. Sie ist nicht die Besserwisserin, die sich aus allem heraushält und anschließend nachtritt, auch nicht die Nörglerin, die alle Entwicklung verhindern will. Sie deutet die Entwicklungen der Zeit und ihre Zeichen im Lichte des Willens Gottes und erhebt ihre Stimme für Menschen, die unter die Räder kommen, abgestempelt und ausgegrenzt werden.

Wenn die Kirche Menschen einzuteilt, abschreibt und  ausschließt, verrät sie ihren prophetischen Auftrag.

Wenn sie schweigt angesichts von Unrecht durch die Mächtigen, verrät sie ihren prophetischen Auftrag.

Wenn ihr Einfluss und Ansehen wichtiger sind als der Wille ihres Herrn, verrät sie prophetischen Auftrag.

 

Kirche hat keine Politik zu machen, aber sie muss politisch werden, also in der Öffentlichkeit auftreten und widersprechen, wenn der Wille Gottes mit Füßen getreten wird. In diesen Tagen gehen viele Menschen auf die Straße für unsere Grundwerte von Freiheit, Toleranz und Gastfreundschaft, aber auch für die Würde des Menschen nach den unsäglichen Plänen aus dem rechten Spektrum, das uns aufgeschreckt hat. Die Kirche kann jetzt nicht ruhig bleiben. Jede Vorstellung, Menschen wegen ihrer Herkunft auszugrenzen, widerspricht unserem Glauben. Wir haben nicht über Parteien und ihre Existenzberechtigung zu urteilen, aber wir stellen uns klar und entschieden gegen jeden, der Menschen mit Migrationshintergrund vertreiben will. Gegen jede Form von Rassismus verteidigen wir die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Es genügen manchmal nicht nur Gebete. Den Willen Gottes müssen wir auch Gehör verschaffen, in dem wir ggf. auch auf die Straße gehen und den Mund aufmachen.

Auch das ist Teil des prophetischen Charakters der Kirche. Amen. Sven Johannsen, Pfr.

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