Predigt Verabschiedung 28.7.2024 „Alles wird zum Heil genesen“
Im Kirchturm
Liebe Schwester und Brüder
hier hat es am Pfingstsonntag 2008 begonnen. Mit dem Einzug in die Stadtpfarrkirche habe ich offiziell meinen Dienst in fünf Gemeinden angetreten. In den letzten Wochen habe ich oft betont, dass ich gehen kann, weil ich überzeugt bin, dass ich meinen Auftrag erfüllt habe. Gefragt habe ich mich öfters, ob ich am 11.5.2008 beim Überschreiten der Schwelle des Hauptportals in der Stadtpfarrkirche schon wusste, was mein Auftrag war. Ich wurde ja nicht hierher gezwungen, aber Frage des damaligen Personalreferenten, ob ich es mir nicht vorstellen kann, ging schon voraus.
Beim Blättern in den Tageszeitungen in den vergangen Wochen wuchs in mir die Gewissheit, dass ich schon unbewusst ahnte, welche Aufgabe mir zufällt. Die Predigt stand damals – passend zum Pfingstfest – unter dem Leitwort „Lasst uns die Tore weit öffnen“. Ich erinnere mich noch gut, dass die Situation der Gemeinden, die mir von Bischof Friedhelm verliehen wurden, sehr der Pfingstgemeinde ähnelte, wie sie in den heutigen Lesungen, die dem Fest entliehen sind, beschrieben wurde: „Hinter verschlossenen Türen.“ Hier und in den anderen Orten waren lebendige Gemeinden, gerade die Kirchen-musik unter Alfons Meusert hat immer noch glanzvolle Momente gezaubert, aber es hatte viel Erschöpfung die Mitarbeiterinnen im Pfarrbüro und die Engagierten in den Gremien befallen und die Angst war spürbar, dass immer mehr sich von der Kirche abwenden würden, ohne dass wir damals schon die großen Austrittswellen ahnen konnten, die auf uns zukamen. Der Suizid von Pfarrer Dr. Kestler lastete noch immer schwer auf den Menschen, nicht weniger das Versagen des Krisenmanagement der Diözesanleitung bis hin zur Ernennung eines Pfarrers, der dann seine Bewerbung wieder zurückzog. Auf Haupt- und Ehrenamtlichen lag der Druck, Normalität zu wahren und zugleich eine Gemeinden lebendig zu halten, obwohl Trauer, Wut, Angst und Zweifel lähmten. Es war das Bild der Pfingstgemeinde, das ich damals wie heute für Lohr und die umliegenden Gemeinden als Identifikation gesehen habe: Wir wissen, dass der österliche Herr die Gemeinde erbaut und stärkt, aber es gab so viele dunkle Schatten, dass die Perspektive nur noch schwer wahrzunehmen war. Dass nach 1 ½ Jahren endlich ein Pfarrer aus der Rhön(in den Worten von Michael Schecher hieß das „nach neun Jahren Kuraufenthalt“) durch die Türen trat, war nicht gleich mit großem Jubel verbunden. Werden wir wieder enttäuscht? Wird er die besondere Situation der Gemeinde respektieren? Wird er seinem Auftrag gerecht werden? Kann er das überhaupt? Viele Fragen auf beiden Seiten begleiteten bei aller Festlichkeit den Schritt über die Kirchenschwelle. Heute kann ich sagen, dass es uns gelungen ist, die Angst zu überwinden und die Tore weit aufzumachen. Wir suchten den Kontakt hinein in die Stadt und in die Dörfer und viele Menschen kamen zu uns, weil sie sich in diesen Gemeinden aufgehoben und willkommen fühlten und fühlen. Wir sind sicher nicht perfekt, aber oft habe ich von Gästen gehört, dass sie sich in der Gottesdienstgemeinde wohl gefühlt haben und dass Eltern von Kommunionkindern gerne auch über die Erstkommunion der Gemeinde verbunden geblieben sind und sich hier einbringen. Dennoch konnten wir nicht aufhalten, dass Menschen gingen, mitunter nicht nur wegen der gesamtkirchlichen Situation, sondern auch weil der Pfarrer ihnen nicht gepasst hat. Einen großen Schritt haben wir auf die Kitas und die Schule getan und sie auf uns hin. Zu den berührendsten Momente der letzten Monate gehören sicher das Spalier der GrundschülerInnen am vergangenen Dienstag und die bewegenden Feiern der Kitas Seeweg, Wombach und St. Pius. Es war mir immer wichtig, dass alle SeelsorgerInnen den Kontakt zu den Schulen und Kitas suchen, weil ich überzeugt bin, dass sie die wichtigsten Orte sind, um mit Kindern, Jugendlichen, Eltern, Erzieherinnen und LehrerInnen in Kontakt zu treten und so Menschen nicht nur oberflächlich zu begegnen, sondern „Rechenschaft von der Hoffnung zu geben, die uns erfüllt.“ (1Petr 3,15). Wir wollten nicht missionieren, aber auf Augenhöhe mit den Menschen Rede und Antwort stehen.
Seit der großen Sanierung habe ich viele Menschen hier am Eingang der Stadtpfarrkirche begrüßt und das zugrundeliegende Konzept des Weges vom Dunkel zum Licht erläutert. Wer die Kirche von der Stadt her betritt, steht zunächst im dunkelsten Raum des Gotteshauses. Das Überschreiten der Schwelle von der Welt in diese Kirche heißt nicht, dass ich alles, was mein Leben schwer macht und dunkel über mir lastet, vor der Türe lassen muss. Wir kommen als Menschen mit unserer Geschichte, mit den belastenden Erfahrungen unseres Lebens und unsere Zukunftsängsten, aber der Blick richtet sich nach vorne. Dem dunklen Eingangs-bereich liegt im Osten das Glasfenster mit dem Bild der Krönung Mariens durch ihren Sohn gegenüber und sagt uns, dass wir nicht im Strudel der Finsternis untergehen müssen. Christus kommt uns wie die aufgehende Sonne entgegen und krönt unser Leben, indem er vollendet, was in unserem Leben bruchstückhaft bleibt. Den vielen Menschen und Vereinen, denen wir die Kirchtüre geöffnet haben, haben wir auch immer eine Botschaft der Hoffnung mitgegeben. Das war auch mein Auftrag gegenüber den Menschen in dieser Stadt und in unseren Dörfern.
Taufstein:
Wer diese Kirche durchschreiten will, der muss zunächst Treppen hinabsteigen und gelangt dann an den Taufstein an der Kreuzung zweier Wege. Oft habe ich Taufeltern diese Symbolik erklärt: Besondere Momente im Leben wie die Geburt eines Kindes und das Familienwerden lässt Menschen in die Tiefe gehen. Es gibt Knotenpunkte im Leben von Menschen, die wie Kreuzungen Verdichtungen darstellen. Hier ist das Leben dichter zu spüren als im Alltag. Verdichtung und der Weg von der Oberflächlichkeit in die Tiefe an Wendepunkten des Lebens sind Erfahrungen, die alle Menschen machen. Es ist der Auftrag der Kirche und des Pfarrers in besonderer Weise dann die Zusage Jesu weiterzugeben: „Seid gewiss, ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“.
Ich habe nicht nachgezählt, nur überschlagen. An diesem Taufstein und in den Kirchen unserer PG habe ich rund 450 Kinder getauft, Jahr für Jahr 25 Kinder zum ersten mal an den Tisch des Herrn geführt und 130 Ehepaaren bei ihrer Trauung assistiert. V.a. waren es aber die Momente des Abschiednehmens, die meine seelsorgliche Begleitung gefordert haben. Ich denke, dass es rund 800 Todesfälle waren, die in den vergangenen 16 Jahren auf den Friedhöfen und in unseren Kirchen Ehepartner, Eltern, Kinder, Geschwister, FreundInnen und KollegInnen zu Trauernden gemacht haben und mitunter schwierige Fragen stellen ließen. Nicht nur besonders dramatische Todesfälle wie der Mord an einem Jugendlichen im vergangenen September, Autounfälle von jungen Menschen oder der viel zu frühe Tod nach einer Tumorerkrankungen, sondern auch der Abschied vom Ehemann oder der Ehefrau nach jahrzehntelanger Gemeinschaft, von den Eltern oder Geschwistern, die schmerzlich vermisst werden, haben Angehörige zurückgelassen mit Fragen an Gott nach dem großen Sinn des Lebens. Es war mein wichtigster Dienst und mein Privileg, Menschen an diesen Knotenpunkten des Lebens zu begleiten. Paulus empfiehlt als apostolischen Dienst im Römerbrief: „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden!“ (Röm 12,15). Das durfte ich als Schwerpunkt meines Dienstes erfahren. Mit Menschen in die Tiefe gehen, die Verdichtungen des Lebens deuten und ihnen helfen, dankbar zu sein für das Geschenk des Lebens, sich zu freuen am gemeinsamen Lebensweg oder zu trauern ohne die Hoffnung zu verlieren, sind die Erfahrungen, die auch für mich als Pfarrer zu den intensivsten Augenblicken meiner Tätigkeit gehörten. Immer durfte ich dabei auf einen großen Vorteil bauen: Wir können über die irdischen Grenzen des Lebens schauen. Als Christ darf ich immer Hoffnung haben für jedes Leben. Diese Zuversicht weiterzugeben kann Ängste nehmen und Trost spenden. Die schönste Botschaft, die ich hier verkünden durfte, ist einfach: „Gott ist ein Freund des Lebens und wir dürfen voller Zuversicht das Leben wagen.“
Altar und Ambo:
Seit der Sanierung der Kirche stehen der neue Altar und der neue Ambo hier am Eingang zum Chorraum. Angefüllt mit viel Symbolik zeigen sie, wer wir als Gemeinde Jesu in unserer Stadt und in unseren Dörfern sind: die Eingangstüre zum himmlischen Jerusalem. Hier schlägt sich die Brücke zwischen Himmel und Erde. Die Bronze als Zeichen menschlicher Fähigkeit und Arbeit in Verbindung mit dem Gold der göttlichen Zuwendung heben den Altar und den Ambo als Mittelpunkt unseres Gemeindelebens heraus. Wir bringen viel ein: Arbeit, Freude, Zeit, Engagement, Liebe, Aufopferung und Idealismus, aber alles wird durchdrungen und vollendet durch die Bejahung dessen, der uns zu seinem Tisch einlädt. Ich will bestätigen, dass in unseren Gemeinden engagierte Christinnen und Christen sich einbringen in den Gremien und viele Ehrenamtlichen Garanten dafür sind, dass wir an einer lebendigen Gemeinde bauen. Viele haben erlebt, dass unsere Gemeinden gastfreundlich und v.a. Familien in ihnen willkommen sind. Unsere Pfarrfeste sind nicht einfach Quellen zur Beschaffung von Geld, das wir für die nächsten Rechnungen brauchen. Gerade in Lohr kann ich sagen, dass wir trotz ständiger Geldknappheit uns bemüht haben, immer großzügig gerade gegenüber Kindern, Jugendlichen und Familien zu sein. Ich habe es immer bewundert, wie viel Zeit und Tatkraft aufgebracht werden, um Feste und Aktivitäten vorzubereiten und durchzuführen. Oft gingen Ehrenamtliche auch an die Grenzen der Erschöpfung, aber niemals hatte ich den Eindruck, dass sie den Gästen gegenüber schlechte Stimmung oder Unfreundlichkeit zeigten. „Hier fühlen wir uns wohl“, diese Rückmeldung ist bis heute die schönste Belohnung für allen Einsatz in unseren Gruppen, Chören, Kreisen und Aktivitäten. Ich glaube auch, dass diese Atmosphäre ihren Grund darin fand, dass wir eine Mitte haben, aus der alles Tun kommt: Die Feier der heiligen Messe am Sonntag. Wir waren nicht eine Sonntagsgemeinde, die sich zum Gottesdienst versammelt, und eine Festgemeinde, die Aktionen und Feiern durchführt. Beide Elemente haben sich hier verbunden, weil es den Engagierten wichtig war, auch die Gottesdienste mitzufeiern. Wo war da meine Aufgabe? In praktischen Dingen war ich ja höchstens zum Aufstellen von Bänken zu gebrauchen. Mein Verständnis vom Mitsein in der Gemeinde ist symbolisch eingefangen in einem Ritus, der schon Lohrer Eigentradition genannt werden kann. Nach dem Verkünden des Evangeliums tragen wir es durch die Gemeinde in den Turm, also an die Schwelle zum Leben in der Wellt. Seit meiner Priesterweihe begleitet mich das Wort des Apostels Paulus: „Wir sind nicht Herren über euren Glauben, sondern wir sind Mitarbeiter eurer Freude; denn im Glauben steht ihr fest.“ (2 Kor 1,24) Ich muss niemanden christlich machen. Mich hat oft der selbstverständliche Glaube von Menschen aller Generationen sehr beeindruckt, aber die Botschaft des Evangeliums in eine Sprache zu bringen, die unserem Denken, Handeln und Verstehen entspricht, gehört zu Kern der Aufgaben des Pfarrers gegenüber seiner Gemeinde. „Ihr seid im Glaubens stark“ – ich teile die Auffassung des Paulus und habe oft erlebt, wie gerade auch ältere Menschen mir durch ihre Art zu Glauben neue Impulse mitgegeben haben. Aber ich will wie Paulus „Mitarbeiter eurer Freude“ sein. Darum war es mir wichtig, die Botschaft des Evangeliums an die Erfahrung des Lebens anzudocken, so dass Sie vielleicht manchmal etwas mitnehmen konnten für sein Leben.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zu zwei meiner Lieblingsorte gehen, die viel über meine eigene Sicht von Kirche und Glauben erzählen:
1960 schuf Fidelis Bentele die Herz-Jesu-Figur in der Stadtpfarrkirche, in der er die Erfahrungen jener Generation deutete, die den Krieg erlebt und seine Last noch verarbeiten musste. Es ist eine eindrückliche Szene: Christus legt die Hand auf die Schultern der Figur, die die Welt symbolisiert. Sie beugt sich niedergeschlagen und ausgeblutet zur Erde. Auf der anderen Seite streckt sich die Kirche aus, nicht weniger geschunden und schwach, und greift nach seinem Herzen, um von dort Hoffnung und Kraft zu schöpfen, die sie der Welt weitergeben soll. Wir brauchen keine Kirche, die sich in Strukturdebatten verliert, in Selbstmitleid suhlt und ständig darüber jammert, dass sie keiner mehr mag. Der Auftrag der Kirche in einer zerrissenen Welt, wie wir sie auch in unseren Tagen erleben, heißt: trotz aller Beulen und Schläge sich aufrichten, aus der Quelle der Hoffnung schöpfen und sie den Menschen in der Zeit weitergeben. So sind wir Licht für die Welt.
Ich möchte vor der Figur unserer Gottesmutter schließen, vor der ich selbst oft gebetet habe. Wir haben in der Kapuzinerkirche mit der sog. „Reinheimer Madonna“ eine sicher kunsthistorisch bedeutendere Figur, aber wie den meisten Lohrer habe ich zu ihr keinen Zugang gefunden. Alle Überlegungen im Vorfeld der Sanierung, die Figuren auszutauschen, waren schnell vom Tisch. Die Lohrer und auch ich hängen an ihrer „Gottesmutter“ mit dem etwas schiefen Lächeln, den Pausbacken und ihrer nicht allzu eleganten Haltung. Christian Sultan und ich haben sogar einmal bei einem Transport nach vorne zum Maialtar dafür gesorgt, dass ihr ein Zacken aus der Krone fiel. Für viele Lohrer, auch für mich, ist sie diejenige, zu der wir wirklich „Du Frau aus dem Volke“ sagen können.
Jetzt mag sich mancher wundern, dass der Pfarrer, der doch so oft die Vernunft betont, manche Volksfrömmigkeit ironisch kommentiert hat und manchem vorkam, als würde er eh nichts glauben, nach sechzehn Jahren bekennt, dass ich im RÜckblick auf diese Zeit dankbar bekennen und bestätigen kann, was wir am Ende des Gottesdienstes singen werden:
„Gnade ist dein ganzes Wesen, gnadenvoll ist deine Hand.
Alles wird zum Heil genesen, wenn es deine Güte fand.“
Alle Unsicherheit, Angst und Unklarheit konnte letztlich zum Heil genesen, weil es die Gnade Gottes und die Güte der Gottesmutter fand. Dafür möchte ich heute dankbar sei. Amen. (Sven Johannsen, Pfr. )