Predigt Sonntag Kantate „Wir an Babels fremden Ufern“

5._Sonntag_Psalm_137_2023.pdf

Liebe Schwestern und Brüder

Bald ist es wieder soweit – nur noch den Sommer hinter uns bringen, dann geht es wieder los: Spätestens ab dem Totensonntag beschallen uns Radio und Supermärkte in Dauerschleife mit „Stille Nacht, heilige Nacht“, „O du fröhliche…“, „Last Christmas“, „jingle bells“ und „o Tannenbaum“ – kirchliche und weltliche Weihnachtslieder kommen in der sog. „Vorweihnachtszeit“ in einer Art Dauerberieselung auf allen Plätzen und Straßen auf uns nieder ohne Chance, dass wir ihnen entfliehen könnten, außer in der Kirche. Können Sie sich das gleiche Szenario im Osterfestkreis vorstellen?

Ab Aschermittwh werden Sie beim Einkaufen unterhalten mit „Preis dem Todesüberwinder“, „Das neue Morgenrot erglüht“ oder einem österlichen Marienlied – undenkbar. Nicht nur, dass Kirchgänger mehr als peinlich berührt wären, wenn sie diese Lieder im weltlichen Bereich als Hintergrundmusik beim Einkaufen, Haarschneiden, Kaffeetrinken ertragen müssten, wahrscheinlich gäbe es Aufstände und Proteste von Menschen, die sich nicht kirchlich gebunden fühlen, wenn sie damit im öffentlichen Bereich konfrontiert würden. Wenn ein Gastronom seinen Laden möglichst schnell schließen will, dann muss er nur ein Kirchenlied abspielen. Es ist für uns nicht vorstellbar, dass das „Weihnachtsphänomen“, also gleichsam das Aufsaugen eines kirchlichen Festinhaltes durch die Welt-Öffentlichkeit, die weitgehend unkirchlich geworden ist, auf Ostern zu übertragen. Natürlich hat das Osterfest mitreißende Lieder, die zum Schmettern einladen und die wir sogar länger singen dürfen als die Weihnachtslieder, denn immerhin feiern wir ja noch bis Pfingsten. Die barocken Choräle mit triumphalen Melodien stehen ihren eher stimmungsvollen Pendants am Hochfest der Geburt Jesu in Qualität und atmosphärischer Dichte in nichts nach, aber sie gehören ganz in unsere Kirchen. Wie das Lied „stille Nacht, heilige Nacht“ am Ende der Christmette Gottesdienstbesucher zum Weinen bewegt, so reißt „Preis den Todesüberwinder“ nach dem Entzünden der Lichter in der Osternacht die Mitfeiernden aus der Müdigkeit, aber eben nur sie. Menschen, die nicht gottesdienstlich beheimatet sind, kennen da Lied höchstens noch von einem Requiem. Weihnachtslieder gehören der Welt, die selbst Jahr für Jahr Songs ohne jeglichen religiösen Bezug für das Fest produziert, Osterlieder den Gottesdienstbesuchern. Dabei ist Ostern noch viel mehr auf das Singen bezogen als Weihnachten. Glauben Sie, dass Maria und Josef in ihrem Stall, bedroht von einem eifersüchtigen Herrscher und unsicher, wie die Zukunft weitergehen wird, nach Singen zumute war? Für die Jüngerinnen und Jünger in den 40 Tagen bis Christi Himmelfahrt kann ich mir das eher vorstellen. Anfangs waren sie verängstigt und verunsichert, aber irgendwann ist die Freude doch explodiert und das Geheimnis des Lebens fasst man am besten in Noten und Töne. Die ältesten Hymnen preisen die Auferstehung und Gottheit Jesu, nicht seine Geburt. Singen ist der treffendste Ausdruck des Ostergefühls. Immer wieder heißt es in den Liedern: „Die Osterfreude, Herr, lass rein und dauernd deinen Jüngern sein..“. Das beten wir fast täglich in ähnlichen Worten in den Tagesorationen ohne, dass es viele Gottesdienstbesucher berührt, gesungen aber reißt es mit und zieht die Herzen nach oben. Ostern braucht den Gesang, mehr noch als das stille Fest Weihnachten, auch wenn es in unserer Wirklichkeit gerade anders wirkt. Dennoch gibt es Lieder mit österlichem Charakter, die den Schritt in die Welt der Populärmusik geschafft haben. Eines kennen Sie sicher: Boney M „by the rivers of babylon“ wird eingespielt

Im Übrigen hat das Lied, das zugrunde liegt, einen bekannten Chor aus der Oper Nabucco von Giuseppe Verdi beeinflusst: „Va pensiero“ einspielen.

Beide greifen zum Teil wörtlich zurück auf Psalm 137, einen der anrührendsten Klagepsalmen, der fast wörtlich einsetzt mit dem Text des populären BoneyM-Songs:

            1 An den Strömen von Babel, / da saßen wir und wir weinten, * wenn wir Zions gedachten.

            2 An die Weiden in seiner Mitte * hängten wir unsere Leiern.

            3 Denn dort verlangten, die uns gefangen hielten, Lieder von uns, / unsere Peiniger forderten             Jubel: * Singt für uns eines der Lieder Zions!

            4 Wie hätten wir singen können die Lieder des HERRN, *fern, auf fremder Erde?

            5Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, * dann soll meine rechte Hand mich vergessen.

            6Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, * wenn ich deiner nicht mehr gedenke,

            wenn ich Jerusalem nicht mehr erhebe * zum Gipfel meiner Freude.

In den letzten Versen, die nach der Liturgiereform auch aus dem katholischen Stundengebet entfernt wurden, hebt der unglückliche Beter an zu Verwünschungen gegen die babylonischen Eroberer und Israels Nachbarvolk Edom, das es im Stich gelassen hat. Die Worte könnten heute in ähnlicher Weise von Menschen in Cherson, Mariupol oder Charkiw gesprochen werden und es fände sich wohl kaum jemand, der den Menschen die Verfluchungen gegen ihre Feinde und ihre Verbündeten wirklich übelnehmen könnte.

Wir finden uns im Psalm an den Strömen des Euphrats wieder, also im heutigen Irak. Seit Mitte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts wuchs der Druck der nördlichen Großreiche auf den kleinen Staat Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem. Immer wieder erlebt man, dass Feinde anrückten, dann aber wieder abdrehten, weil die Könige des Landes sich zu Tributzahlungen verpflichteten oder eine Belagerung durch Gottes Fügung scheiterte. 597 v. Chr. aber unterwerfen die Truppen des babylonischen Königs Nebukadnezars II. Juda, rücken in Jerusalem ein und deportieren die Elite des Landes. Zehn Jahre später marschiert Nebukadnezars nochmals gegen Jerusalem, weil der König seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommt, zerstört die Hauptstadt mit dem Tempel und verschleppt den Großteil der Bevölkerung ins Exil an die Flüsse Euphrat und Tigris. Es geht der jüdischen Bevölkerung wirtschaftlich nicht schlecht. Obwohl Gefangene Babylons können sie ihr eigenes Leben in Siedlungen führen, in denen sie unter sich bleiben, aber sie sind fern der Heimat. Verdi hat es in den sehnsuchtsvollen Ruf gekleidet: „Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen,… Grüße die Ufer des Jordan, die zerfallenen Türme Zions…“ .

Auch in unserem Gotteslob hat der Psalm Eingang gefunden und fast wörtlich im Lied GL 438 „Wir, an Babels fremden Ufern…“ eine ausdrucksstarke Melodie bekommen, die den Charakter der Klage eindringlich verstärkt. Die Melodie zeigt sich schlicht in d-Moll. Neunmal erklingt der Grundton d. Das musikalische Grundmotiv ist spürbar geprägt von der Spannung zwischen ansetzendem Höhenflug und Absturz. Immer wieder zieht sich die Melodie auf den Grundton zurück. was harmonisch, aber auch niedergeschlagen wirkt. Nur einmal, genau in der Mitte, springt die Musik eine ganze Oktave, ein Anflug von Hoffnung oder der Schrei der Ohnmacht, wie es der Exeget Erich Zenger interpretiert hat? Man könnte in den vier Strophen, die den Psalm interpretieren, durchaus die resignative Stimmung vieler Menschen unserer Zeit heraushören, in der „Frieden“; „Gerechtigkeit“, „Solidarität“ und „Versöhnung mit der Schöpfung“ wichtige Anliegen für einen Großteil der Weltbevölkerung geworden sind, aber dennoch immer wieder bedroht bleiben und die Prozesse zur Verbesserung viel zu oft in Ansätzen stecken bleiben. Das erscheint wenig österlich, eher ernüchternd. Aber der Autor, Pater Diethard Zils, fügt eine letzte Strophe an, die den Psalm um die christliche Hoffnung erweitert: „Jesu Kreuz sei meine Hoffnung gegen jede Tyrannei, und durch seine Auferstehung ziehn wir aus der Sklaverei.“ Es ist also doch ein österlicher Gedanke, der dieses Lied prägt, kein triumphaler Jubel wie wir in ihn aus den „Osterschlagern“ unseres Gotteslob kennen, aber vielleicht ganz nah an der Verkündigung des heutigen Evangeliums, das seinen chronologischen Platz im Abendmahlssaal hat, also vor Tod und Auferstehung Jesu. Die Jünger sind verunsichert im Blick auf die kommenden Ereignisse. Die Stimmung im Abendmahlsraum verheißt nichts Gutes. Nicht nur ihr Herr wird leiden, sie selbst werden den Weg und die Orientierung verlieren, wie wir es aus den Osterzählungen wissen. Aber genau in dieser bedrängten Atmosphäre baut Jesus schon eine Hoffnung auf: Wir sind nicht Sklaven eines bösen Schicksals, das uns übel mitspielt, sondern bereits angemeldet in den Wohnungen des Vaters. Oft fühlen wir uns in dieser Welt mit ihren Bedrohungen fremd und unbehaust, aber wir sind nicht heimatlos, sondern schon im Einzug im Haus, in dem Jesus uns einen Platz bereitet hat und wo all die warten, die uns vorausgegangen sind. Wir vertrösten uns nicht mit einer ungewissen Zukunft, in Jesus haben wir den Vater bereits erkannt und gesehen. Wir sind in dieser Welt nicht im Exil, sie ist Gottes gute Schöpfung, aber wir sind auch noch nicht zuhause, dafür steht ihre Verwundbarkeit. Wohl aber sind wir bereits auf dem richtigen Weg. Darum können wir auch bedrängt und unsicher von Ostern singen und bitten: Halleluja, Ostersegen komm herab wie Morgentau, sich in jedes Herz zu legen, dass es froh nach oben schau und zu neuem Wuchs und Leben sich in Christus mög’ erheben. Halleluja, Jesus lebt.“                                                                                                                                                                 Sven Johannsen, Pfarrer