„Ihr seid wie Don Camillo und Peppone“, diese Einschätzung wurde mir in den vergangenen sechzehn Jahren öfters rückgemeldet, wenn die Vertreter der Stadt Lohr und der Pfarrer z.B. bei der Frage der Finanzierung einer umfassenden Sanierung des Kirchturms in einer unserer Gemeinden nicht einer Meinung waren. Ich weise zwar nachdrücklich zurück, jemals mit dem Bürgermeister eine handgreifliche Auseinandersetzung gehabt zu haben oder bewaffnet im Rathaus erschienen zu sein, aber mitunter prallten wohl die unterschiedlichen Einschätzung so diametral aufeinander, dass Beobachter den Eindruck von so gegensätzlichen Positionen hatten, dass sie gut im Vergleich der humorigen Filme von Don Camillo und Peppone eingefangen werden können.
Auch wenn die Filme mit Fernandel nur wenig mit den Originalbüchern von Giovanni Guareschi zu tun haben, sind die Streitigkeiten zwischen dem schlagfertigen und schlagkräftigen Ortspfarrer und dem hitzköpfigen, aber äußerst menschlichen Bürgermeister Peppone legendär und oft zum Maßstab geworden, um das Verhältnis zwischen Pfarrer und Bürgermeister auch weit über die Grenzen des kleinen Dorfes Brescello zu beschreiben: „Die sind wie Don Camillo und Peppone.“ Das dürfen sowohl der Bürgermeister als auch der Pfarrer durchaus auch als Anerkennung sehen. In den Filmen und Bücher gibt es keinen strahlenden Held und keinen finsteren Bösewicht. Beide, Don Camillo und Peppone, haben das Herz auf dem rechten Fleck, auch wenn sie es manchmal überziehen und unüberlegt handeln. Don Camillo hat dann den Christus am Kreuz, mit dem er ständig im Gespräch ist, der ihn ausbremst, und Peppone seine Frau, die das Schlimmste verhindert. Letztlich spiegelt sich im humorigen Vergleich die Beobachtung einer zunehmenden Distanz zwischen Kirche und Kommunen. Dahinter muss man noch nicht einmal Streitigkeiten vermuten. Die Schnittmengen werden einfach kleiner. Im Lohr des 17. Jahrhunderts lebten die Menschen nicht in getrennten Welten: Kirche und Politik waren eins. Weder der Pfarrer noch der Amtmann konnten ohne Zustimmung des Mainzer Erzbischofs eine Kirche bauen, eine Karfreitagsprozession beschließen oder ein Schloss sanieren. Die Zeiten haben sich gründlich geändert. Wir haben in unserem Land bereits mit der Weimarer Verfassung die Religionsfreiheit, die weltanschauliche Neutralität des Staates und die Selbstbestimmung aller Religionsgemeinschaften zu Pfeilern des Verhältnisses von Staat und Kirche gemacht. Kurz gefasst bedeutet es für unser Land: Es gibt kein Staatskirchentum, in dem der Monarch auch über die Kirche bestimmt, aber auch keine völlige Ausblendung von Religion im öffentlichen Bereich. Da unterscheidet sich Deutschland stark von seinem Nachbarn Frankreich. Die Stadt Lohr ist längst keine „katholische“ Stadt mehr und der Pfarrer ist nicht der Wahlhelfer für den Bürgermeisterkandidaten einer bestimmten Partei. Wir leben miteinander, aber oft scheinen wir nur wenig miteinander zu tun zu haben. Doch der Prophet Jeremia mahnt: „Bemüht euch um da Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betete für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl“ (Jer 29,7)
Warum aber sollten wir das tun? In Deutschland sind Staat und Kirche getrennt. Was also geht uns als Kirche das Wohl der Stadt Lohr an? Am heutigen Rochustag zumindest sind wir verpflichtet, für das Wohl der Stadt zu beten:
Ich habe immer darauf hingewiesen, dass das Gelöbnis für die heutige Rochusprozession nicht von einem Pfarrer geleistet wurde, sondern von den Vertretern der Stadt Lohr. Ganz sicher steckte dahinter auch der landesfürstlicher Wille des Mainzer Erzbischofs, der ja sowohl geistliches als auch weltliches Oberhaupt der Stadt war, aber mehr als die Karfreitagsprozession ist der Rochustag eine weltliche Initiative. In größter Sorgen um das Wohlergehen der Menschen in dieser Stadt haben der Amtsmann und die Ratsmitglieder von Lohr beschlossen, jährlich am Tag des heiligen Rochus auf den Valentinusberg zu ziehen und – im Falle einer Verschonung vor der Pest – ein Dankamt zu Ehren der allerheiligsten Dreifaltigkeit zu feiern. Letztlich ist der Pfarrer am Rochustag nicht Herr über das Geschehen, sondern nur der „ausführenden Arm“ des Rathaus. Möglicherweise kann der Bürgermeister für nächstes Jahr anordnen, dass die Messe wieder in Latein und im tridentinischen Ritus gefeiert wird, weil es ja immer so war. Das müssen Kirchenrechtler klären. Heute also nehmen wir den Auftrag aus dem Propheten Jeremia an: „Bemüht euch um das Wohl der Stadt … und betet für sie zum Herrn.“
Aber ist das nicht ein Anachronismus, eine Ritus, der aus der Zeit gefallen ist? Oder gibt es doch mehr, das uns verbindet?
1. Rochus ist eine Herzensverpflichtung und die Seele unserer Traditionen.
Viele Lohrer kommen bewusst zurück am Rochustag, weil sie schon aus Kindheitstagen gewohnt waren, die Prozession zu begleiten. Auch wenn Lohr immer mit der Karfreitagsprozession in Verbindung gebracht wird, nehme ich das Verpflichtungsgefühl der Menschen in dieser Stadt heutigen Tag genauso stark wahr wie am Karfreitag. Es ist der Wunsch, dieses Fest als geistlichen Tag im Leben der Stadt zu begehen. Mancher ist kein großer Kirchgänger, aber der Rochustag ist ihm heilig. Die Geschichte dieser Stadt, ihre Traditionen und auch ihr Selbstbewusstsein ist unbestritten geprägt von Religion. Ob die Erzbischöfe von Mainz oder die Grafen von Rieneck – sie waren nicht nur Politiker, sondern auch Vertreter von religiösen Anschauungen, die sie durchsetzen wollten. Darunter hatten Menschen zu leiden, die nicht die gleiche religiöse Konfession teilten oder als Bedrohung wahrgenommen wurden, das darf man nicht verschweigen. Orden und Stiftungen, die einen religiösen Hintergrund hatten, haben aber viel Gutes bewirkt, die Kapuziner, die Jesuiten, die Marinannhiller, die Neustädter Dominikanerinnen und bis heute die Dillinger Franziskanerinnen. Sie sorgten sich um Familien und Alte, waren in Krankenhäusern, Kindergärten und Schulen und begleiteten Menschen in allen Lebensumbrüchen. Es gab Zeiten, da war das Leben in Lohr eng mit Religion verflochten und sie wirken fort in den Traditionen, die gleichsam die Seele unserer Stadt bilden. Ich musste in den vergangenen sechzehn Jahren mir oft das Lachen verkneifen, wenn wieder ein „großer Gelehrter“ aufstand und uns wissen lassen wollte, dass die Karfreitagsprozession eine nicht von der Kirche, sondern den Handwerkern initiierte Angelegenheit sei. Man muss sehr wenig Ahnung von Geschichte haben, wenn man meint, dass ohne Zutun des Erzbischofs von Mainz solche Initiativen gestartet werden konnte. Die Menschen vor uns hat die Frage nicht interessiert: „Wer hat es erfunden?“ Die Eingenart von Lohr und seinen Festen sind ein Hinweis darauf, dass es lange keine Trennung von Religion und öffentlichem Leben gegeben hat. Selbst die Spessartfestwoche war terminlich am Rochustag orientiert. Das wirkt bis heute fort. Es gibt nicht zwei strikt getrennte Parallelwelten, die einander nicht berühren. Aber mit Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen hin zu einer viel größeren Vielfalt von religiösen und weltanschaulichen Einstellungen scheint es mir wichtig für die Zukunft im Blick zu behalten: Die Stadt Lohr mit den politischen Gremien und Verwaltungsbehörden ist für alle ihre Bürgerinnen und Bürger da, unabhängig von Religion, Herkunft und Kultur. Christen haben keinen Anspruch auf Bevorzugung, wohl aber darauf, wahrgenommen und mit ihren Bedürfnissen gesehen zu werden. Ich glaube nicht, dass die Stadt Lohr ohne Blick auf die religiöse Motivation von Menschen ihren Bürgerinnen und Bürgern gerecht werden kann. Christen sind nicht die Elite dieser Stadt, aber sie haben wohl das Recht, dass sie Unterstützung bekommen in der Ausübung ihrer Religion und ihr Beitrag zum Leben der Stadt anerkannt werden. Ich denke da auch an den Respekt durch Außenstehende und Gastronomie während der Prozessionen, die seit langer Zeit zum Leben in der Stadt gehören.
2. Glaube und Religion bringen sich in das Leben unserer Stadt ein
Glaubende Menschen finden sich nicht als Sekte hinter verschlossenen Kirchen-mauern, sondern leben mitten unter denen, die sich nicht gläubig sehen. Sie engagieren sich in Chören, Kapellen, Sportvereinen, Hilfsorganisationen und eben in Pfarrgemeinden. Sie fallen nicht auf unter allen anderen, sondern leben, lieben und streiten mitunter wie alle Menschen, aber ihr Glaube motiviert sie, die Not der Menschen wahrzunehmen und sich für andere zu engagieren. In einem berühmten Text des II. Vatikanischen Konzils heißt es: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ (Gaudium et spes I). Christsein kann nicht nur ein Anliegen der privaten Frömmigkeit sein. Ich komme ohne den anderen Menschen nicht in den Himmel. Der Glaube an den, der Mensch wurde, um das Leiden des Menschen zu tragen, kann nur dazu motivieren, dem Apostel Paulus zu folgen, der sagt: „Einer trage des anderen Last. Dann erfüllt ihr das Gesetz Christi.“ Sicher sind sozial engagierte Menschen nicht nur im Kreis der Christen zu finden, aber es kann auch nicht übersehen werden, wie viele derer, die sich helfend einbringen, dies aus einer christlichen Motivation tun. Es ist schade, dass die kirchlichen Verbände, die die soziale Verpflichtung verkörpert haben, große Nachwuchsprobleme haben. Aber das entbindet die Pfarrei nicht, den Dienst am Nächsten immer wieder neu ins Zentrum zu rücken. Wir sind nicht nur Festwirte und Liturgen, sondern dem Nächsten der Nächste. Gerade der Blick auf den Heiligen Rochus, der ohne Fragen jedem in Not zur Hilfe eilte, macht aus der „städtischen“ Prozession ein Glaubensanliegen. Neben dem Dank für die Rettung tritt die Verpflichtung zur Diakonie heute an uns heran.
3. Kirche ist dazu bestimmt, der Hoffnung unter den Menschen zu dienen.
Kehren wir nochmals zu Don Camillo und Peppone zurück. Es gibt eine berührende Szene in der Folge, die mit der Flutkatastrophe endet. Das Wasser des Flusses ist trotz allem Beten über die Ufer getreten. Die Dämme sind gebrochen. Der Bürgermeister muss das Dorf räumen. Zunächst bekriegen sich Peppone und Camillo noch um die Uhren am Kirchturm und am Volkshaus, dann aber bündeln sie ihre Kräfte, um die Menschen in Sicherheit zu bringen. Das Dorf ist bereits evakuiert, nur Don Camillo bleibt in der Kirche und hält, kniehoch im Wasser, eine Predigt, die auf wundersame Weise alle hören können. Er erzählt von einer Vision:
“Da wir uns unter diesen Umständen kaum um den Altar unseres Herrn versammeln können, lasst uns wenigstens ein Gebet der Hoffnung hinauf zum Himmel senden. Es ist nicht das erste Mal, dass Menschen nasse Füße bekommen haben. Sie haben schon ganz andere Katastrophen überstanden. Aber eines Tages werden die Wasser wieder zurückgehen. Die Sonne wird wieder scheinen. Die Blumen werden wieder blühen. Über eine Weile werdet auch ihr zurückkommen, und wir werden wieder beginnen. Alle gemeinsam. Wir werden wieder das Hämmern aus der Werkstatt unseres Freundes Peppone hören, unseres geliebten Bürgermeisters, die Säge von Bionda wird wieder durch den ganzen Ort zu hören sein, und das Pochen aus der Werkstatt des Schusters Rocca, das uns so oft im Schlaf gestört hat. Wie oft haben wir uns über den Lärm geärgert – und wie sehr vermissen wir ihn jetzt! Auch das Geschrei unserer Kinder, wenn sie durch die Straßen tobten . . . Erinnern wir uns in späterer Zeit, wie wir uns als Brüder und Schwestern in Not und Gefahr geholfen haben. Wir werden, jeder auf seine Weise, mit Gottes Hilfe, kämpfen. Auf dass die Sonne wieder heller scheine. Auf dass die Blumen noch schöner blühen. Auf dass die Not eines Tages ein Ende haben möge. Alles wird leichter sein!“
Don Camillo schaut in die Zukunft: Wir werden…. Vielleicht ist der Blick vom Kirchturm in die Ferne ein guter Platz für die Kirche in einer Stadt, wenn die Stürme über sie hereinbrechen und alle engagiert sind, einander zu helfen und beizustehen. Vielleicht braucht es da auch jemanden, der Mut macht, Kraft spendet und Hoffnung weckt, weil er allen sagt: „Die Sonne wird wieder scheinen und die Not wird ein Ende haben. Erinnern wir uns daran.“ Die Kirche rettet niemanden allein, aber sie kann ihren Beitrag, den Dienst an der Hoffnung, leisten und so wie hier in Lohr Jahr für Jahr ein Gebet der Hoffnung für die Stadt hinauf zum Himmel senden. Möge diese Tradition des Rochustags noch vielen Generationen von Menschen in unserer Stadt ein solches Hoffnungszeichen sein und Mut machen, an das Gut zu glauben. Gebe uns Gott dazu auch in diesem Jahr wieder seinen Segen. Amen.
Sven Johannsen, Pfr.