Liebe Schwestern und Brüder
Was ist ein Vater? Die Tagesschau weiß die Antwort: „Der Partner oder die Partnerin der entbindenden Person“. Das klingt ein wenig befremdlich, war aber tatsächlich so im April auf der Homepage der ARD-Nachrichten so zu lesen.
Eigentlich ging es nur um die Nachricht, dass das Familienministerium plant, einem Vater nach der Geburt seines Kindes zwei Wochen bezahlte Freistellungs-Zeit zukommen zu lassen. Die Redakteure wollten wohl besonders genau auf „politische Korrektheit“ achten und haben auf das Wort „Vater“ verzichten. Den eigentlichen Sturm der Entrüstung aber hat die Formulierung „entbindende Person“ ausgelöst, die die Bezeichnung „Mutter“ ersetzte. Der selbsternannte Georgsritter des gesunden Menschenverstandes, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, hat zum Widerstand gegen die übertriebene „Wokeness“ gerufen und tatsächlich dauerte es nicht lange, dass die ARD ihren Artikel korrigierte und aus der „entbindenden Person“ eine „Mutter“ machte.
Ich kann gut verstehen, dass viele von Ihnen über diese Blüten einer ins Übermaß gesteigerten Wachsamkeit, niemanden auszugrenzen oder zu diskriminieren, verärgert oder belustigt den Kopf schütteln, aber es offenbart, wie unklar und hinterfragbar in unserer Zeit auch das Selbstverständliche geworden ist. Wer ist eine Mutter angesichts von Fragen um Leihmutterschaft, Geschlechteridentität, aber auch im Blick auf das Schicksal von ungewollt kinderlosen Paaren, die mitunter Kinder adoptieren oder aber in der Familie als Tanten, Onkeln, Patinnen und Paten viele Aufgaben in Erziehung und Förderung von Kindern übernehmen?
In der Folge der skurrilen Empörungswellen hat die ZEIT vor dem Muttertag die einfache, große Frage gestellt „Was ist eine Mutter?“ (DIE ZEIT 20/2023) Antworten haben die Redakteurinnen erbeten von der siebenfachen Mutter und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, von der Hirnforscherin Jodi Pawluski, und von der ukrainischen Soldatin Olha Bihar, die bis Mitte Januar in Bachmut stationiert war und jetzt in Kiew die Flugabwehr verantwortet.
Die Soldatin weiß selbst, dass sie unter den geltenden gesellschaftlichen Normen als schlechte Mutter erscheinen muss, weil sie kaum bei ihrem sechsjährigen Sohn sein kann. Sie selbst aber sieht sich als Vorbild für ihren Sohn, weil sie ihm zeigt, dass Freiheit das Wichtigste im Leben ist. Für sich selbst kann sie sagen: „Am Muttersein liebe ich, dass ich stärker geworden bin. Ich bin erfolgreicher, psychisch stabiler. Man muss mit dieser kleinen Person auskommen, die ihre eigenen Wünsche und ihre eigene Weltsicht hat.“ Ihre Hauptaufgabe als Mutter sieht sie darin, ihrem Sohn ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen und ihn auch unter diesen Umständen eine glückliche Kindheit erfahren zu lassen.
Die Hirnforscherin Jodi Pawluski berichtet, dass viele Schwangere und junge Mütter über „Stilldemenz“ klagen, also dass ihr Gehirn anscheinend nicht mehr so gut funktioniert wie früher oder viele Dinge einfach ausblende. Tatsächlich stellt sie bei Schwangeren eine Veränderung im Hirn fest, die aber nicht zu einem Leistungsabfall führt, sondern eher eine Art „fine tuning“ darstellt. „Mit den Veränderungen reagierten die Hirne der Mütter anders auf Schlüsselreize, zum Beispiel auf Bilder von lachenden Babys oder das Weinen eines Kindes. Es sei nicht so, dass Mütter fixe Verhaltensmuster ausbildeten wie Tiere, vielmehr entwickelten sie die Fähigkeit, Signale von Kindern zu verstehen.“
„Die mächtigste Mutter Europas“, Ursula von der Leyen, sieht das Besondere im Muttersein in der „absoluten Gewissheit, dass dieser Mensch einen das ganze Leben begleiten wird.“ Im Rückblick auf die Geburt ihrer sieben Kinder stellt sie heraus: “Aus meiner Erfahrung als Mutter ist es diese ganz eigene, tiefe Bindung zum Kind. Diese überwältigende und vor allem bedingungslose Liebe diesem kleinen Wesen gegenüber, die ab dem ersten Moment da ist, das kann man kaum beschreiben.“
Noch andere „entbindende Personen“ kommen zu Wort, u.a. zwei Frauen, die als zwei Mamas ein Kind großziehen, und ein Trans-Mann, der vor kurzem ein Kind zur Welt brachte. In einer immer diverser werdenden Gesellschaft scheint es für den Staat und andere Institutionen am einfachsten, sich auf neutrale, aber völlig inhaltsleere Formulierungen zurückzuziehen, aber sie werden dem Wesen einer „Mutter“ und auch eines „Vaters“ nicht gerecht. Auf die Frage „Was oder wer ist eine Mutter?“ kann man angemessen nicht nur mit juristischen oder biologischen Erklärungen antworten. In allen Stellung-nahmen wird die emotionale Bindung einer Mutter vom Anfang des Lebens ihres Kindes an betont: Das Wissen um eine lebenslange Gemeinschaft, die Verantwortung für das Wohlergehen und die Sicherheit des neuen Menschen, das Vermögen, sich einzufühlen, wie es dem eigenen Kind geht und was es braucht. Diese tiefere Bindungen erschließen viel mehr die Bedeutung von Eltern-Kind-Beziehungen als die biologische Definitionen, gerade auch in einer Zeit, in der wir immer wieder mit Erschrecken zur Kenntnis nehmen müssen, dass biologische Eltern diese eigentliche Ebene im Miteinander mit ihren Kindern nicht erreichen, vernachlässigen oder sogar völlig ausblenden. Wechselt man die Perspektive und schaut auf das Kind, das all die Erfahrungen machen kann, von denen die Mütter oben gesprochen haben, dann weiß man, welche prägenden Erlebnisse einem Menschen beim Heranwachsen versagt bleiben, dem diese Eltern-Kind-Gemeinschaft nicht zugänglich gemacht wird. Eltern sind mehr als die biologischen „Lebensgeber“, sie prägen still und nachhaltig unsere Werte und unser Verhalten, positiv und negativ.
Von dieser menschlich zugänglichen Sicht auf das prägende Moment des Lebens, kann man auch die Abschiedsrede Jesu im Johannesevangelium deuten, die wir letzten Sonntag begonnen und heute fortgesetzt haben bis wir sie am kommenden Sonntag beenden. Alle Worte Jesu bauen auf einer gelungenen Beziehung zum Vater auf, in die die Jünger mitgenommen werden. In der Rede vom „Vater“ wird das Verhältnis zwischen Gott und Mensch über die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpfe hinaus geweitet. Es geht im Glauben nicht nur um Dankbarkeit für das Geschenk meines Lebens, sondern um ein Urvertrauen, nicht allein gelassen zu sein. Die Gemeinde des Johannes wird nach Ostern bedrängt vom Gefühl, verwaist zu sein und von ihrem jüdischen Umfeld nicht verstanden zu werden. Sie fragt sich, wie es nach der Erhöhung Jesu weitergehen soll? Schon im Abendmahlssaal verweist Jesu auf die entscheidende Prägung durch den Geist. Nicht mehr die körperliche Gegenwart Jesu garantiert die Nähe des Vaters, sondern das Hineinwachsen in den Geist Jesu, der sich auch im Dunkel der Welt ganz geborgen wusste in der Herrlichkeit des Vaters. Gott hat sich ganz an Jesus gebunden. Er ist der Weg zum Vater und er enthüllt in seinem Reden und Wirken den oft verborgen wirkenden Gott als Vater, der sich zeigt und erfahren werden will. Er ist keine abstrakte Urmacht, die den Menschen ins Leben schickt und sich dann zurückzieht. In der gegenseitigen Liebe wird er in der höchsten Weise gegenwärtig, weil er Liebe ist. Das erinnert sehr an das Empfinden, das die Mütter im Zeitungsartikel ausgedrückt haben: die absolute Gewissheit, ein ganzes Leben für diesen Menschen da zu sein. Wenn es im Prolog des Johannes-Evangeliums heißt, dass alle, die Jesus aufnehmen und an ihn glauben, die Macht haben, Kinder Gottes zu sein, weil sie aus Gott geboren sind, dann geht es um eine Lebenshaltung, die ganz aus der Wissen gespeist wird, dass wir nicht alleingelassen und vergessen sind in dieser Welt.
Gerade in einer Zeit, in der die Gefahr der Vereinsamung nicht nur ältere Menschen trifft, sondern in zunehmenden Maße auch junge Menschen, die nach außen erfolgreich, vernetzt und lebensfroh erscheinen, im Innersten aber daran verzweifeln, dass sie sich ohne feste Bindungen und auf sich allein gestellt, ist dieses kindliche Urvertrauen in den Vater, aus dem Jesus lebt, eine Herausforderung und Ermutigung. Wir bemerken oft gar nicht, wie v.a. auch junge Menschen sich nach einem Halt sehnen, v.a. nach einem Menschen, dem sie absolut vertrauen und auf den sie sich verlassen können. Deshalb kann die Botschaft des Johannes-Evangeliums „Wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden und auch ich werde ihn lieben“ die Lebensnot vieler Menschen jeden Alters treffen. Es geht beim Halten der Gebote nicht um Perfektion. Jesus kennt ein Gebot, das der Liebe zu Gott und den Menschen: „Ein neues Gebot gebe ich euch. Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,34).
Wenn wir heute im gesellschaftlichen Leben den Muttertag begehen, dann erinnert er uns auch daran, was unser Leben auch in der Sicht des Glaubens, erst seinen tiefsten Inhalt gibt: gelungene Beziehung, die uns und dem anderen das Gefühl vermittelt, nicht allein gelassen und vergessen zu sein. Gott hat uns diese Erfahrung im Kommen Jesu geschenkt. Die Gabe des Geistes, des Beistandes, ist es, sie in unserem Leben fruchtbar werden zu lassen und als Zeugnis der Hoffnung für eine „verwaiste“ Menschheit liebend zu bezeugen. Amen Sven Johannsen, Pfr.