Liebe Schwester und Brüder
Eines ist auch in diesem Jahr sicher: am Abend des zweiten Weihnachtstages läuft das Traumschiff aus. Der jährliche Neustart des Luxusdampfers am Ende der Feiertage vor der Rückkehr in den grauen Alltag gehört nun schon seit Jahrzehnten zu den Weihnachtstraditionen der Deutschen. Es gibt auch keine Anzeichen, dass sich das jemals ändern wird.
Am 26.12. bringt den von den Feiertagen geplagten und nach einer Auszeit suchenden Zuschauer vom Chiemsee bis nach Flensburg ein smarter Kapitän mit seiner Crew in exotische Länder. Das Traumschiff ist fester Bestandteil deutscher Weihnachtskultur.
Aber schon viel länger eröffnet das Einlaufen eines anderen Schiffes das eigentlichen Weihnachtsfest. Das Lied „Es kommt ein Schiff geladen“ dürfte zu den ältesten geistlichen Liedern in deutscher Sprache gehören. Wir finden es zwar erst 1608 in einer Sammlung von Lieder im „Andernacher Gesangbuch“, aber der Straßburger Schriftsteller David Sundermann, der es 1626 in sein Gesangbuch aufnimmt und textlich glättet, gibt als Urheber den spätmittelalterlichen Mystiker Johannes Tauler an, der es im 14 Jh. verfasst haben soll. Beweisen lässt sich diese These nicht, aber sie legt sich nahe, denn die Bilder, die das Lied verwendet, passen gut in das geistliche Denken der selbstbewussten Mystiker des 13. und 14. Jahrhunderts.
Zunächst kann man mit Rückgriff auf die Tradition der Kirche im Schiff, das im Hafen der Welt anlegt, die Gottesmutter Maria ausmachen. Schon seit vielen Jahrhunderten wurde Maria geehrt als „navis gaudorum“, als „Schiff der Freuden“, weil sie Jesus, den Erlöser, in die Welt gebracht hat. Für den spätmittelalterlichen Mensch waren die großen Handelsschiffe, die Luxusgüter aus aller Welt in die aufstrebenden Hansestädte brachten, wirkliche Freudenboten. Natürlich hatte man alles, was man zum Leben brauchte, aber wirklichen Genuss boten erst die exotischen Güter, die die Handelsschiffe an Bord transportierten, die v.a. in den großen Häfen Norddeutschlands anlegten. Maria, „navis gaudorum“, brachte wahres Leben, den Genuss der Ewigkeit, in die Welt durch das Kind, das sie in sich trug. Das Bild vom „Schiff, das geladen hat bis an sein höchsten’ Bord“ ist Symbol für das sehnsüchtige Hoffen des Menschen, nicht nur die Zeit zu überleben, sondern zum wahren Leben zu finden.
An diesem Punkt trifft die Tradition auf das neue Selbstbewusstsein des städtischen Menschen im Spätmittelalter. Die Geburt des Kindes, die im Lied besungen wird, steht auch für die innere Geburt des Menschen, der erkennt, dass Gott nicht außerhalb seiner Existenz wohnt, sondern dass er in ihm selbst und in allem Lebenden steckt. Jeder Mensch, so die großen Mystiker Tauler, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, hat einen göttlichen Kern, den er bereits in diesem irdischen Leben entfalten kann. Es stellt eine der großen Herausforderungen des Lebens da, in allen Bedrängnissen und Verpflichtungen an diesen göttlichen Kern zu gelangen und so das Göttliche im Menschlichen, das Ewige im Sterblichen zu entdecken. Wem diese Verbindung gelingt, der wird von Lebensfreude erfüllt und kann gelassen leben.
Den wichtigsten Schritt zum Erreichen dieses Zieles geht das Kind selbst voran: Es gibt sich für uns verloren“, macht sich also frei von allen Sicherheiten, Bindungen und Besitztümern. Der göttliche Sohn, der die Ewigkeit in Händen hält, lässt seinen Himmel hinter sich und begibt sich in unsere Endlichkeit. Er zeigt den Weg, innerlich frei zu werden, „mit ihm zu sterben“, damit wir „geistlich auferstehen“, also als Menschen leben, die nicht mehr gefangen sind von Beschränkungen, Verlustängsten und kleinlichen Sorgen.
Wenn wir heute singen „Es kommt ein Schiff geladen bis an sein’ höchsten Bord,
trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewigs Wort.“ Dann besingen wir nicht nur in anbetender Liebe, was in der Heiligen Nacht geschehen ist, sondern gehen den gleichen Weg des Loslassens und der Hingabe, wie es die letzten Strophen beschreiben:
„5. Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muss vorher mit ihm leiden groß Pein und Marter viel,
6. Danach mit ihm auch sterben und geistlich auferstehn, Ewigs Leben zu erben, wie an ihm ist geschehn.“
In der Tradition der großen Mystiker hat Pater Anselm Grün immer wieder eingeladen, das göttliche Kind in uns zu entdecken und so zum wahren Leben zu finden:
Ewiges Leben ist nicht in erster Linie das Leben nach dem Tod, sondern eine eigene Qualität von Leben. Es ist ein Leben, das jetzt schon das Ewige und Göttliche in sich birgt… Das ewige Leben hat keine „Dauer“, sondern ist Leben in jedem Augenblick, Leben in Fülle.“ (aus Anselm Grün; „Perlen der Weisheit“)
Wir brauchen keine inszenierten Bilder des Traumschiffs, die uns von einem Übergang in ferne Welten träumen lassen. Wir dürfen uns einfach dem göttlichen Sohnes öffnen und ihn in uns zur Welt kommen lassen, um so den Übergang zum Leben in Freude und Fülle zu finden. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer