„Woran kann man noch glauben?“ fragte die ZEIT zum letzten Weihnachtsfest am Ende eines Jahres der großen Krisen dreizehn Theologen, Philosophen, Politiker und Künstler mit der Bitte um Antworten, die Hoffnung machen. Unter ihnen waren wichtige Denker unserer Zeit vertreten, u.a. Kardinal Walter Kasper, die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus, der Philosoph Wilhelm Schmid und die ehemalige Botschafterin am Vatikan, Annette Schavan.
Beeindruckt hat mich die Antwort von Andreas Nachama, Sohn einer Holocaust-Überlebenden, Rabbiner in Berlin und sehr engagiert im Dialog zwischen Juden und Christen. Auf die Frage „Woran kann man noch glauben?“ erwiderte er kurz „Das Gute.“ Dann erzählte er ein wenig aus der Geschichte seiner Familie und kam zu dem Schluss: „Meine Mutter hat als junge Jüdin in Berlin die Schoa überlebt. Von ihr habe ich den Glauben an Wunder geerbt und an das Gute. Sie tauchte damals unter, und an ihrer Rettung sieht man, wie bescheiden das Gute daherkommen kann. Die Leute, die meiner Mutter Unterschlupf gewährten, oft nur für Tage, nahmen sich ja nicht vor, gut zu sein. Sie öffneten ihre Tür und machten Platz für ein Wunder.“ (Die ZEIT 53/2022)
Jüdische Gläubige haben ein eher nüchternes Verhältnis zu Gott, Wunder und Glaube. Die Liebe zu Gott ist in der Regel nicht ein Überschwang der Gefühle in einer besonders dichten Situation einer geistlichen Erfahrung, Vision oder Offenbarungserlebnis. Pfingstlicher Erweckungsjubel liegt ihnen fern. Liebe zu Gott ist im Alltag angesiedelt und geht auf leisen Sohlen einher wie dem täglichen Beten, dem Verhalten und Befolgen der Vorschriften der Tora. Die Aussage von Rabbi Nachama, dass die Menschen, die seiner Mutter halfen, sich nicht vorgenommen haben, gut zu sein, aber es im entscheidenden Moment waren, trifft diese Sicht genau. Pfadfinder haben sich zur Aufgabe gesetzt, jeden Tag eine gute Tat zu vollbringen. Das ist anerkennenswert, aber nicht auf der Agenda des glaubenden Menschen. Die Gottes- und Nächstenliebe sind kein Programm, das auf seiner Haustür stehen oder dass er morgens durch konkrete Aktionen planen muss, sondern werden aus dem Herzen heraus praktiziert, wenn es Zeit dafür ist. Dann machen sie Platz für ein Wunder, wie es der Rabbiner beschreibt.
Jesus fasst heute das Wesentliche aller heiligen Texte der hebräischen Bibel im Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten zusammen. Das ist nicht seine Erfindung. Die Liebe zu Gott findet sich als Kernaussage im jüdischen Glaubensbekenntnis, dem „Schma Jisrael“, im Buch Deuteronomium: „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Dtn 6,4f) Die Liebe zum Nächsten wie sich selbst bildet den Mittelpunkt des sog. Heiligkeitsgesetzes im Buch Levitikus, aus dem Jesus ebenso wörtlich zitiert: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr.“ Jesus begründet die Liebe zu Gott und zum Nächsten nicht. Das Schweigen des Gesetzeslehrer zeigt auch, dass die religiösen Denker im Judentum seiner Zeit wohl kaum widersprochen hätten. Jesus konzentriert die biblische Botschaft auf das Wesentliche. Der heilige Augustinus wird später erklären, dass viele Texte der Bibel bildhaft zu verstehen sind und tiefer gedeutet werden müssen. Allein die Texte, die das Doppelgebot der Liebe zu Gott und den Nächsten zum Thema haben, sind wörtlich zu befolgen. In diesem kurzen Abschnitt ist also konzentriert zusammengefasst, was ein glaubender Mensch von der Bibel in jedem Fall wissen muss.
Herausfordernder erscheint doch die Frage, wie beide Gebote sich im konkreten Leben verwirklichen lassen. Wir neigen heute sehr oft dazu, in den Mahnungen Jesu eine Überforderung zu sehen und sie zu relativieren. Aber Jesus übertreibt nicht, sondern fordert heraus, dass wir uns fragen, wie Gebote, die uns oft völlig einsichtig sind, unser Leben bestimmen. Wer würde bezweifeln, dass es im Glauben letztlich darum geht, Gott und den Nächsten zu lieben? Aber wie das Doppelgebot in meinem Leben Wirklichkeit wird und wie sehr es mich bestimmt, darauf wird jeder unterschiedlich antworten.
Ich sympathisiere sehr mit der jüdischen Sicht, die Rabbi Nachama formuliert hat: „Ein glaubender Mensch nimmt es sich nicht vor, aber praktiziert es selbstverständlich, wenn es gefordert ist.“
Die Liebe zu Gott ist wohl weniger ein überschwängliches Gefühl des Schwärmens. In jüdischer Tradition zielt die Gottesliebe in allen Texte darauf hin, sich zu erinnern, dass Gott das Volk aus der Sklaverei in Ägypten geführt und mit freien Menschen am Bund Sinai einen ewigen Bund geschlossen hat. Gott lieben, meint dann zuerst, sich daran zu erinnern, dass er mich zur Freiheit berufen hat und ich mich nicht versklaven lassen soll von anderen Menschen, von Erfolg, Ehrgeiz, Besitz, Macht oder anderen Ausdrucksformen des Egoismus. Der Mensch, der allein Gott Herr über sein Leben sein lässt, und sich eine innere Freiheit und Unabhängigkeit von den Götzen seiner Zeit bewahrt, liebt Gott. Im o.g. Bericht von Rabbi Andreas Nachama sind es die Menschen, die die Türen öffneten ohne Angst vor den Machthabern und Sorge um das, was sie an Nachteilen erfahren könnten. Sie haben in den Menschen vor ihrer Tür den Nächsten gesehen, dem gegenüber sie jetzt verpflichtet sind. Sie haben sich keine Heldentaten vorgenommen, sondern gehandelt aus einem inneren Antrieb, der aus dem Glauben in ihrem Herzen kam. Die Liebe zu Gott und zum Nächsten prägt das Wesen eines Menschen und es ist die eigentliche Aufgabe, ihr Raum zu geben, dass sie sich im konkreten Handeln verwirklichen kann.
Jesus folgt dem Denken der hebräischen Bibel und setzt die Liebe zu Gott an den Anfang. Die erste Erfahrung, die ein Mensch im Glauben macht, ist gleichsam ein kindliches Grunderlebnis: Ich bin geliebt. Gott kann ich lieben, weil er nicht pflichtschuldige Opfer von mir verlangt, sondern weil ich so antworte auf das Empfinden, von ihm gewollt, gesehen und beschenkt zu sein. Ich handle dann nicht gut am Anderen, weil ich Angst vor Gott habe, sondern weil es die Umsetzung der Gegenliebe zu ihm in die Wirklichkeit ist. Wie immer geht es Jesus also nicht um ein aufgesetztes Opfer, sondern um eine innere Haltung, also nicht um spektakuläre Taten, sondern um selbstverständliche Zuwendung zum Menschen, der mich braucht und in dem ich Gottes Anruf an mich erkenne.
Rabbi Nachama erinnert an die jüdische Praxis, am Ende eines Gebetes in der Synagoge drei Schritte zurückzutreten, um so dem Guten und dem Frieden Raum zu geben. Das Gute ist jenseitig und diesseitig. Wir erleben das Gute, das von Gott kommt, und handeln gut am Menschen, den Gott zu unserem Nächsten gemacht hat.
Es gibt eine Erzählung aus dem babylonischen Talmud, einer der wichtigsten jüdischen Überlieferung, die etwa zur Zeitenwende, also wenige Jahre vor Jesu Auftreten, verortet ist. Sie berichtet:
„Einmal kam ein Heide zu Rabbi Schammai; er sprach zu ihm: „Nimm mich als Proselyt auf unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Bein stehen kann.“ Er (Schammai) stieß ihn mit dem Baumass, das er in der Hand hatte davon. Darauf ging er zu Rabbi Hillel. Dieser nahm ihn als Proselyt auf. Er sprach zu ihm: „Was dir unlieb ist, tue keinem anderen. Das ist die ganze Tora, und das andere ist Erklärung dazu. Gehe also und lerne sie.“ (Babylonischer Talmud, Traktat Schabbat 31 b; zit: Schweizerisches Katholisches Bibelwerk „Damit sich die Schrift erfüllt…“; Paulusverlag Freiburg Schweiz 2016; S. 343)
Wir müssen uns das Gute nicht vornehmen. Wer der inneren Haltung der Goldenen Regel, die auch Jesus lehre, folgt, der weiß genau, wann es Zeit ist, die Türen zu öffnen, dem Guten Raum zu geben und so Platz zu machen für das Wunder, das Gott geschehen lassen will. Amen
30 A Dem Wunder die Tür öffnenSven Johannsen, Pfarrer