Predigt 21. Sonntag B „Der Nachmittag des Christentums“
„Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“ (Joh 6,60 – 69)
Liebe Schwestern und Brüder
„Als letzter schicksalsergebender Passagier auf der untergehenden Titanic während die Kapelle gerade den letzten Choral „Näher mein Gott zu dir“ spielt oder als mutiger Beobachter auf dem Leuchtturm, der im Sturm durch die dunkle Wolkenmauer die ersten Strahlen der Sonne sieht? Wo sehen sich gerade als Katholik in einer Kirche, die scheinbar jeden Halt verloren hat und über die seit Jahren schon die Abgesänge in den Medien angestimmt werden? Ich kann gut verstehen, wenn Sie auch eher die erste Sicht teilen. Alles spricht für den Untergang.
Die Zahlen wiederholen sich und geben den Trend eindeutig vor. Auch wenn in der jährlichen Kirchenstatistik die Rekordaustrittszahlen von 2022 mit 522.621 Austritten im vergangenen Jahr nicht erreicht wurden, summieren sich die 402.694 Katholiken, die 2023 die Kirche verlassen haben, zum zweithöchsten Wert und der Trend wird in den nächsten Jahren kaum abflachen. Soziologen sagen uns, dass auch eine grundlegenden Reform und Veränderung der Kirche die Erosion nicht stoppen kann. Die Lawine rollt und mit ihr wird sich die Gestalt beider großer Kirchen grundlegend verändern. Die Gründe sind bekannt. Letztlich sind es aber nicht nur Skandale und Fehler, sondern eine sich auflösende Bindung an die Kirche. Das Gefühl, als letzter Passagier auf der Titanic auszuharren, wird denen, die noch immer Mitglied der Kirche sind, geradezu aufgedrängt, verbunden mit der Frage des heutigen Evangeliums: „Wollt auch ihr gehen?“ Kann ich aber auch die andere Sicht der Hoffnung einnehmen? Oder mache ich mich so zum bedauernswerten Utopisten, der lächerlich von einer Zukunft träumt, die es für die Kirche gar nicht mehr gibt? Ich gebe zu, dass ich mir auch als Pfarrer die Frage stelle, ob meine Sicht nur noch Zweckoptimismus ist, weil ich auf der Gehaltsliste des Bischofs stehe, oder ob es Momente in der Kirche gibt, die wirklich von einem neuen geistlichen Aufbruch des Glaubens reden lassen? Ich könnte auf einige Initiativen verweisen, wie z.B. Bewegungen junger Menschen, die sich ernsthaft mit Glaube, Liturgie und Anbetung auseinandersetzen, aber da werden Sie mir schnell die Mehrheit der Katholiken in allen Altersgruppen entgegenhalten, denen Glaube, Kirche und Religion immer gleichgültiger werden. Weder der Abgrund noch die Rückkehr zum alten Glanz scheinen mit die Perspektive für die Zukunft.
Ich halte es mit Tomáš Halík, dem tschechischen Religionssoziologen, Theologen und Philosophen. In seinem Buch „Der Nachmittag des Christentums“ stellt er fest: “Die gegenwärtige geistig-geistliche Situation kann man als einen Niedergang der Religion, als eine Krise des Glaubens oder der Kirche oder als eine religiöse und spirituelle Renaissance, als eine »Rückkehr der Religion« charakterisieren, als eine Verwandlung der Religion in Spiritualität oder in politische identitäre Ideologien, als Pluralisierung der Religion oder als Individualisierung des Glaubens, eventuell als Chance zu einer neuen Evangelisierung.” (“Der Nachmittag des Christentums: Eine Zeitansage” von Tomáš Halík; Freiburg i. B. 2022; S. 21) Tomáš Halík, der in einem politischen System der damaligen Tschechoslowakei aufgewachsen ist, in dem alles Religiöse an den Rand gedrängt wurde, ist sehr vorsichtig in seiner Einschätzung: Weder stimmt er ein in die Klagelieder auf die Kirche, die mehr totgesagt als wirklich tot ist, noch träumt er von einer Rückkehr zur Größe und zum Glanz der „triumphierenden Kirche“ nach dem Durchschreiten einer augenblicklichen Talsohle. Er orientiert sich an einem Wort von Papst Franziskus, der einmal gesagt hat: „Wir leben nicht in einer Ära des Wandels, sondern erleben den Wandel einer Ära.“ (s. S. 8) Es geht im Blick auf die Zukunft von Kirche und Glauben nicht um „Untergang“ oder „Triumph“, sondern um eine neue Gestalt, die trägt und zum Menschen passt, der nach Gott sucht. Er findet ein ungewöhnliches Bild, um zu beschreiben, an welchem Punkt der christliche Glaube steht: Es ist der „Nachmittag des Christentums“. Verwirrt Sie diese Zeitangabe? Entlehnt ist sie dem Denken des Psychoanalytiker C.G. Jung, der das Leben des Menschen in die Tageszeiten einteilt und die Mittagszeit als die große Krisenphase deutet. Nach der Euphorie und Leidenschaft der Jugend und der Phase als junger Erwachsener wird der Mensch in der Lebensmitte mit Erschöpfung und Freudlosigkeit konfrontiert. In diesem Moment stellt er alles in Frage, was ihn bisher angetrieben hat. Krise meint dann Entscheidungssituation: Finde ich einen neuen Blick auf mein Leben oder versuche ich „die gute alten Zeiten“ zurückzuholen und kann daran nur scheitern? Ich kann meine Jugend nicht mehr aufleben lassen und habe mich dem Lebensauftrag zu stellen, in der Krise zu reifen und einen neue Blick auf mein Leben zu finden. Jung nennt diesen Abschnitt des gereiften Menschen den Nachmittag des Lebens. Er gelingt nicht automatisch, sondern nur durch Auseinandersetzung, Loslassen und Neuausrichtung. Ähnlich beschreibt Tomáš Halík auch die bisherige Geschichte des Christentums in den Tagesabschnitten „Morgen“, „Mittag“ und „Nachmittag“. Es gab eine Zeit der Blüte, in der die Kirche ihre Gestalt und auch den Inhalt ihrer Lehre entwickelte. Spätestens mit der Reformation, aber eigentlich schon mit der Emanzipation der Naturwissenschaften in der Renaissance, geriet sie in die Krise, die sich über die Aufklärung und die Infragestellung der Religion durch den Atheismus bis in unsere Zeit fortsetzt. Obwohl nach außen auf dem Höhepunkt ihrer „Macht“ verlor sie immer mehr die Kontrolle über den Glauben ihrer Mitglieder. Sie wird angegriffen und in Frage gestellt, ihre Geschichte wird kritisch beleuchtet, ihr Umgang mit Andersdenkenden angeklagt und ihre Schwachstellen, Skandale und heuchlerisches Verhalten demaskiert. Das hat nicht erst in den letzten Jahrzehnten begonnen, sondern ist ein Prozess über hunderte von Jahren. Jetzt stehen wir am Nachmittag des Christentums. Selbst wenn wir die Krise überwinden, werden wir nicht einfach zur Sorglosigkeit des Anfangs zurückkehren können. Weder wird es der Kirche gelingen, ein Lehrgebäude vorzugeben, dem alle einmütig zustimmen, noch wird sie die Kraft sein, die die Menschheit eint wie einst in den Zeiten des sog. christlichen Abendlandes. Ihre Gestalt wird sich verändern und das hat viel mit dem Glauben zu tun: Nicht mehr die Inhalte, die die Kirche vorgibt, stehen heute im Vordergrund, sondern eine Sehnsucht nach dem gelingenden Leben aus dem Glauben des Einzelnen, also seiner Beziehung zu Gott als dem Urgrund allen Seins. Glaube ist nicht zuerst die Zustimmung zu allen Lehren, die die Kirche verkündet, sondern das Bemühen des Menschen, das eigene Leben, Denken, Handeln, die Einstellung zur Welt und die Suche nach dem Sinn aus der Beziehung zum lebendigen Gott zu gestalten. Wenn Glaube immer mehr auf Distanz zu den Inhalten geht, so wichtig sie auch sind, und sich zum Beziehungsgeschehen wandelt, ändert sich zwangsläufig auch die Gestalt der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, Liebenden und Hoffenden.
Der Prozess von jugendlichem Aufschwung über die Krise zum Nachmittag des Glaubens lässt sich auch im Evangelium nachvollziehen, v.a. in den Texten des sechsten Kapitels des Johannesevangeliums, die uns seit mittlerweile fünf Sonntagen in der Liturgie begleiten. Am Anfang des Erzählbogen stand ein faszinierender Auftakt, die wunderbare Brotvermehrung. Jesus speist 5000 Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen. Die Menge strömt zu ihm und will ihn zum König machen. Die Jünger erleben Jesus auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Die Bewegung um den Wanderprediger aus Nazareth, der auf wundersame Weise so vielen Menschen Essen gibt, steht an der Schwelle, eine Massenbewegung zu werden, die ganz Israel mitreißen könnte. Aber Jesus misstraut dem vordergründigen Glauben, der allein aus der Faszination des Wunders kommt. Die Mittagskrise bahnt sich an in der Auseinandersetzung um den Anspruch Jesu „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt.“ Die Geister scheiden sich. Der Jubel verstummt, Ärger wallt auf und Widerspruch setzt ein. Fromme Juden können Jesu Selbstdefinition nicht folgen. Es kommt zur Krise, also zum Moment der Entscheidung: Viele trennen sich und gehen, wie wir es heute hören. Aber einige bleiben, nicht weil sie Angst haben, sich einzugestehen, dass sie mit Jesus falsch lagen, sondern weil sie spüren, dass der Glaube an Jesus der Weg zum wahren Leben ist. Wenn wir heute Petrus sein überzeugtes Bekenntnis sprechen hören, dann ist das keine Trotzreaktion verbunden mit dem Wunsch, die Zeit zurückzudrehen und wieder beim Erfolg des Wunders anzufangen. Vielmehr spricht für mich aus seinen Worte der gereifte Glaube, der die anfängliche Sorglosigkeit hinter sich gelassen hat, aber auch in Krise geläutert und geklärt wurde und jetzt weiß, was ihn an Jesus bindet: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“ Vielleicht musste er Abschied nehmen von der stillen Hoffnung, dass mit Jesus ganz Israel einen Neuanfang wagen kann, aber er kann davon sprechen, was Jesus ihm und den anderen Jüngern bedeutet: „Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“ Nicht Ratlosigkeit, sondern innere Sicherheit lassen ihn fragen: „Wohin sollen wir gehen?“ Er nimmt das Wort Jesu auf „Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben“ und kann die Richtigkeit für sich bestätigen. Aus der Beziehung mit Jesus leben, wird für ihn zum einzigen Weg, um in diesem Leben bestehen zu können. Es ist kein Glaube, der sich v.a. aus Lehrsätzen speist, sondern seine Quelle in der Sicherheit hat, dass das Leben nur aus dem Geist Jesu gelingen kann und Zukunft hat im Leben in Fülle. Das ist nicht nur eine persönliche Sicht des Petrus. Er spricht für einen Kreis von Menschen, die alle die Krise miterlebt haben, aber sich nicht vom allgemeinen Trend überrennen lassen. Die Gemeinschaft wird anders sein. Die Hoffnung auf große Erfolge ist begraben, aber die Tür geöffnet für alle Menschen, die nach einem tragfähigen Grund für ihre irdische Existenz und nach einer Perspektive für die Zukunft suchen. Jesus stärkt nicht nur in den Erfahrungen von Erschöpfung, Trauer und Angst, sondern schenkt Worte des ewigen Lebens, die über den kleinen Horizont unseres Daseins hinausweisen. Das ist der Anknüpfungspunkt für den Nachmittag des Christentums. Wir werden bald die Diskussionen über die Abgrenzungen von Konfessionen und Ansichten hinter uns lassen und erkennen, dass uns über alle Unterschiedlichkeit der Glaube als Ausstrecken nach Gott verbindet und zusammenhält.
Tomáš Halík beschreibt seinen eigenen Glauben: “Ich glaube an einen Gott, der die Tiefe der gesamten Wirklichkeit, der ganzen Schöpfung ist, der sie umfasst und sie gleichzeitig unendlich übersteigt; ich glaube an den Gott, von dem der Apostel Paulus sagt: »In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.”
Es geht im Glauben also mehr um das Leben als um die Worte eines Menschen.
Wenn unser Blick mehr auf den gelebten Glauben fällt als auf die Richtigkeit der Lehre und die offizielle Zugehörigkeitsmerkmale, dann werden wir erkennen, dass wir gar nicht so allein mit unserem Glauben dastehen, sondern viel mehr Menschen als die Gruppe, die man mit Zugehörigkeitszahlen beziffern kann, die Gemeinschaft der Glaubenden bilden, letztlich die universale Kirche, die als pilgerndes Volk Gottes auf dem Weg durch die Zeiten immer schon Höhen und Tiefe durchschritten hat und immer dann vorankam, wenn sie nicht ihre eigenen Wege ging, sondern sich das Bekenntnis des Petrus zu eigen gemacht hat und zugab: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“ Vieles, was uns bisher wichtig und wesentlich erschien in der Kirche, wird untergehen, aber ebenso wird die Hoffnung auf gelingendes Leben weiterhin der Antrieb sein, den Glauben zu wagen und die Gemeinschaft der Glaubenden zu suchen, damit wir in Jesus ans Ziel kommen und das ewige Leben finden. Amen.
Sven Johannsen, Pfr.