Predigt 14. Sonntag im Jahreskreis B

Predigt 14. Sonntag im Jahreskreis B

„Sich die Freiheit nehmen zu leben und nicht sich das Leben nehmen“

Zur Debatte um die Suizidbeihilfe

 

Liebe Schwestern und Brüder

Unerwartet scheiterten am Donnerstag zwei Gesetzesentwürfe im Deutschen Bundestag. Dass zur Zeit Gesetzesinitiativen vom Bundesverfassungsgericht kassiert oder gar nicht erst den Weg in das deutsche Parlament finden, weil die Koalitionspartner sich heillos zerstritten haben, kommt durchaus, gerade in dieser Regierungsperiode, häufiger vor. Ob Heizungsgesetz oder Kürzung von Elterngeld für Gutverdienende, im Augenblick fahren viele Vorhaben der Regierung krachend gegen die Wand. Aber am Donnerstag war die Situation anders. Es ging nicht um ein Gesetzesvorhaben von einzelnen Parteien gegen eine Opposition, sondern um das Ringen, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Regelung von Beihilfe zum Suizid umzusetzen. 2015 wurde von der alten Bundesregierung der Paragraph 217 des Strafgesetzbuches neu gefasst, der die geschäftsmäßige Sterbehilfe verbot. Im Februar 2020 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass dieser Paragraph verfassungswidrig sei, und erklärte, dass jeder Mensch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben habe und damit das Recht, sich selbst das Leben zu nehmen. Auch dürfe er sich dafür, in jeder Phase der menschlichen Existenz, bei Dritten Hilfe suchen.

Eine Neuregelung zu finden, wurde als wahre Mammutaufgabe an den Gesetzgeber zurückgespielt. Die Ampel-Regierung hat dies weit oben auf ihrer Agenda, und so wird bereits in diesen Monaten über die konkrete rechtliche Ausgestaltung debattiert.

Am Donnerstag lagen nun zwei Entwürfe vor: ein eher liberaler Vorstoß um die ehemalige Bundesministerin und Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast und ein sehr restriktiver Vorschlag um den SPD-Abgeordneten Lars Castellucci. Beide Gesetzesentwürfe erhielten keine Mehrheit von den Abgeordneten. Kritisiert wurde schon im Vorfeld die  übertriebene Eile, die nicht ausreichend Zeit lässt, um die Vorlagen intensiv zu beraten.

Wie sollen man als Christ zu diesem Scheitern im Bundestag stehen? Einerseits wollen wir keine geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung. Die katholische Kirche steht dem ablehnend gegenüber. Dies wurde auch in der unmittelbaren Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor zwei Jahren deutlich. In einer gemeinsamen Stellungnahme äußerten katholische und evangelische Kirche ihre große Sorge angesichts der Entscheidung. Sie deuteten diese als einen wesentlichen Einschnitt in eine Kultur, die auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtet ist.

Andererseits lautet auch nach erfolglosen Abstimmung im Bundestag die Frage nicht, ob, sondern wie die Suizidbeihilfe  erlaubt wird. Wenn das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich bejaht hat, dass Menschen über das Ende ihres Lebens frei bestimmen und dafür auch die Hilfe eines Dritten in Anspruch nehmen können, dann wäre m.E. der Vorstoß der Gruppe von Lars Castellucci, der Beihilfe zum Sterben grundsätzlich weiterhin als strafbar ansieht, aber bestimmte Ausnahmen regeln möchte, der katholischen Sicht am nächsten gekommen, denn er hätte entgegengewirkt, dass die Beihilfe zur Selbsttötung zum „Regelangebot“ der Medizin wird.

Schließlich können wir auch nicht übersehen, dass Angebote zur Beihilfe bereits vorhanden sind, z.B. durch Sterbevereine im Ausland, und dass die Gefahr groß ist, dass in Deutschland Assistenz bei der Selbsttötung abseits staatlicher Rahmensetzungen geschieht und so diese Form immer mehr zur selbstverständlichen Form des Lebensendes wird.

Die Sicht der Kirche ist eindeutig: Sie lehnt Selbsttötung und Beihilfe ab. Diese Haltung wird ihr schon durch das eindeutige Tötungsverbot der Bibel und die Verpflichtung zum Schutz des Lebens als Geschenk Gottes vorgegeben. Ebenso haben die Bischöfe immer wieder auch darauf hingewiesen, dass das Vertrauen in die Ärzte geschwächt wird und Mediziner nicht mehr eindeutig als Anwälte des Lebens erkennbar sein werden. Schließlich mahnt auch der Blick auf die Nachbarländer Schweiz und Niederlande, in denen eine sehr liberale Praxis im Umgang mit Beihilfe zum Suizid rechtlich etabliert ist, zur Vorsicht. In beiden Ländern sind die Fallzahlen der Sterbehilfe in den letzten Jahren erheblich angestiegen.

Vor allem aber wollen die Bischöfe verhindern, dass der Eindruck entsteht, Beihilfe zum Suizid sei normal und öffentlich akzeptiert. Diese Meinung hätte verheerende Auswirkungen: Aus einzelnen Fällen verzweifelter Menschen könnte ein Bewegung entstehen, die Menschen in schwierigen Situationen unter Druck setzt.

Letztlich bin ich auch nicht überzeugt, ob die menschliche Freiheit in der Entscheidung so rein und ungeteilt ist, dass wirklich in jedem Fall davon auszugehen ist, dass der Entschluss unabänderlich ist. Immer wieder wird auf das Beispiel des US-Amerikaners Kevin Hines verwiesen, der seit seiner Jugend an einer bipolaren Störung litt und im September 2000 versuchte, sich das Leben zu nehmen durch eine Sprung von der Golden Gate Bridge. Wie durch eine Wunder überlebte er den Sprung. Später bekannte er, dass er diesen Versuch der Selbsttötung schon im gleichen Moment bereut habe: „Als sich meine Hände vom Brückengeländer lösten, habe ich meine Entscheidung sofort bereut. Aber es war zu spät: Ich fiel mehr als 60 Meter tief, vier Sekunden lang und schlug ins Wasser ein. Alles, was ich in diesem Moment wollte, war leben.“ (Die Zeit 18/2022) Heute engagiert er sich in der Suizid-Prävention. Nachdenklich gemacht hat mich seine Erzählung über sein Weg zur Brücke. Er sagte in einem Interview: „Im Bus auf dem Weg in Richtung Golden Gate Bridge hatte ich mir vorgenommen: Wenn auch nur ein Passant auf dem Weg bis zum Brückengeländer fragen würde, wie es mir geht, würde ich nicht springen. Aber die einzige Person, die mich ansprach, war eine Touristin: Ich sollte ein Foto von ihr machen.“ (ebd.)

Es kann uns als Kirche nicht darum gehen, durch Verbote die Freiheit und Autonomie von Menschen einzuschränken, aber dennoch glauben wir daran, dass jeder Mensch den Wunsch hat, zu leben, auch wenn er manchmal verdunkelt und verschüttet ist. Das „Nein“ zur Suzidbeihilfe gründet im „Ja“ zum Leben. Deshalb sind wir auch verpflichtet, über rechtliche Regelungen hinaus zu fragen, was Menschen brauchen, damit der Wille zum Leben nicht erlischt. Es geht uns um eine Gestaltung einer lebens-bejahenden Gesellschaft, in der Menschen nicht unter den Druck geraten, dass es besser sei, wenn es sie nicht mehr gäbe. Das ist übrigens auch die Absicht eines Gesetzes, das am Donnerstag doch beschlossen wurde und die Suizidprävention zum Ziel hat.

Mit Blick auf die Einladung Jesu an die „Mühseligen und Beladenen“ geht es um mehr als um ein Gefühl des Mitleids, nämlich um Unterstützung aus christlicher Barmherzigkeit. Kerstin Schlögl-Flierl, Professorin für Moraltheologie in Augsburg, deutet diesen Auftrag zur erbarmenden Liebe so:

„ Gemeint ist damit aber nicht wie von Teilen der evangelischen Kirche und Theologie gefordert, Menschen beim Suizid zu unterstützen, womöglich noch in kirchlichen Einrichtungen. Vielmehr geht es darum, sie in ihren Leiden und Ängsten, in ihrer Armut, Einsamkeit und Perspektivlosigkeit zu begleiten – und ihre Wünsche nachzuvollziehen und zu verstehen.“ (CiG 8/2022)

Sie fordert ein Gesamtpaket von palliativmedizinischen, suizidpräventiven, v.a. auch seelsorglichen und beratenden Maßnahmen, mit denen Menschen die Ängste vor dem Lebensende genommen werden können. In diesem Kontext kommt kirchlichen Einrichtungen, v.a. auch Alten- und Pflegeheimen, eine besondere Bedeutung zu. Wie hier die Würde des alten und kranken Menschen geachtet und gewürdigt wird, zeigt, ob wir es ernst meinen mit dem Schutz des Leben zu jeder Zeit.

Liebe Schwestern und Brüder

Die Mahnung von Kerstin Schlögl-Flierl bringt auf den Punkt, um welches Anliegen sich die Debatte um das Leben und seinen Schutz in unserer Gesellschaft wirklich bewegt:

„Im Grunde geht es bei allem um die Frage, welche Gesellschaft wir sein und welche Kultur wir pflegen wollen. Wollen wir das Signal senden, dass wir Menschen aufgegeben haben, dass wir resignieren und ihnen nicht mehr anders helfen können, als sie dabei zu unterstützen, sich zu töten? Kann dies im Angesicht der Vielzahl der Mittel, die uns heute zur Verfügung stehen, wirklich das Ziel einer humanen Gesellschaft sein?“  (ebd)

 

Ich achte die Freiheit des Menschen, wünsche mir aber, dass wir an einer Gesellschaft bauen, in der Menschen sich die Freiheit nehmen zu leben und nicht frei sein wollen, um sich das Leben zu nehmen. Amen.

Sven Johannsen, Pfarrer

14_Beihilfe_Suzid_2023.pdf