In diesem Jahr ging es bei strömenden Regen durch die Straßen der Lohrer Altstadt. Dennoch waren Träger und Teilnehmer der Prozession in großer Zahl gekommen und gingen mit Generalvikar Dr. Jürgen Vorndran den traditionellen Weg rund um den Kirchberg, durch die Fischergasse und zurück durch die Hauptstraße zum Kirchplatz. Dort deutete Dr. Vorndran das Geschehen in eindrucksvoller Weise.
Die Predigt von Dr. Jürgen Vorndran, Generalvikar der Diözese Würzburg, am Ende der Karfreitagsprozession 2024
Predigt von Generalvikar Dr. Jürgen Vorndran
zur Karfreitagsprozession in Lohr am 29.3.2024
Liebe Schwestern und Brüder,
„Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist grün…“
Dieses Ratespiel hat uns als Kindern viel Spaß gemacht.
Mit diesem Spiel kann man den Blick schärfen!
Es gibt so unendlich viel, was wir nicht sehen, nicht wahrnehmen, nicht beachten, obwohl es da ist!
Erst wenn uns andere darauf aufmerksam machen, fangen wir an, unseren Blick und unseren Horizont zu erweitern!
„Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist ein leidender Mensch…“
Sie, liebe Engagierte der Lohrer Karfreitagsprozession, schärfen jedes Jahr den Blick für das, was Jesus Christus für uns getan hat. So machen sie schweigend etwas zum Thema, was in unserer Gesellschaft sonst vielfach Tabu ist: dass es unglaublich viel Leid in der Welt gibt, das Menschen unschuldig trifft.
Sie zeigen in der Karfreitagsprozession heute Schmerzen, Wunden und Tod. Und wir begreifen, dass das alles dazugehört zu unserem Leben, auch wenn wir es vielfach ausblenden. Das ist uns erst gerade wieder hautnah bewusst geworden, als plötzlich das Martinshorn ertönte und ein Rettungswagen mitten durch die Prozession fuhr. Krankheit und Leid trifft Menschen oft ohne jede Vorwarnung…
Und so zog auch heute bei Regen und Kälte die Karfreitagsprozession durch diese Stadt.
Eine Karfreitagsprozession in einem Jahr, in dem die Welt den Atem anhält im Blick auf zwei Kriegsherde, die nicht zum Frieden finden:
Die Menschen in der Ukraine gehen ins zweite Kriegsjahr und die Menschen in Israel und Palästina sind seit dem 7. Oktober des letzten Jahres mit einer neuen Spirale der Gewalt konfrontiert, die uns alle erschauern lässt.
Vielleicht ergreifen uns die Bilder des leidenden Jesus deswegen in diesem Jahr mehr als sonst. Und wir fragen uns:
Wie kann Jesus diesen Weg freiwillig gehen? Nach drei unbeschreiblichen Jahren seiner öffentlichen Sendung zieht er mit seinen Jüngern hinauf nach Jerusalem. Die Apostel sind noch ganz im Taumel seines Erfolgs, seiner Wunder, seiner mitreißenden Predigten vom Reich Gottes. Doch Jesus selbst sieht seinen gewaltsamen Tod auf sich zukommen. Er ist mit seinen Jüngern nach Jerusalem hinaufgezogen, um die Entscheidung zu suchen. Er spürt: Seine Predigt der unbedingten Liebe Gottes bringt ihn in absoluten Widerspruch zu den herrschenden Klassen seiner Zeit.
Doch all das kann ihn nicht davon abhalten, seinen Weg der Liebe weiter zu gehen, auch wenn er ihn auf den Kreuzweg und ans Kreuz führen wird. Und so geht er Schritt für Schritt entschieden weiter hinaus nach Golgotha.
Wir möchten im Angesicht seines Leidens ausrufen:
Es ist genug! Ein Mensch hat gelitten – für alle.
Er war Gottes Sohn! Sein Leid soll ein für allemal genügen!
Und doch sieht die Welt anders aus…
In Russland hat ein Mann zu Beginn dieser Fastenzeit, am Freitag nach Aschermittwoch, im Gefängnis den Tod gefunden unter bis heute ungeklärten Umständen.
Auch er ist aus freien Stücken nach der Genesung von einem Giftanschlag von Berlin aus, wo er in der Charité behandelt worden war, wieder nach Russland zurückgekehrt. Und wir fragen uns: Wie kann ein Mensch so etwas freiwillig tun? Alexej Navalny hat mit dieser Entscheidung sein Leben aufs Spiel gesetzt! Was für ein Irrsinn!
Und doch gilt es, den Blick zu schärfen:
„Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist ein freier Mann.“
Navalny ist eine Ikone der Freiheit und Demokratie inmitten eines totalitären und korrupten Systems. Dafür steht er mit seiner ganzen Person. Diese Werte waren die Wirklichkeit, in der er verwurzelt war. Diese Freiheit zu verraten, war für ihn keine Option. Und so gab es für ihn nur eine Wahl: Nach Russland zurückzukehren, diesen Weg unbeirrt weiter zu gehen, selbst wenn es ihn das Leben kosten würde. Sich selbst würde er niemals verraten. Zu allen Zeiten haben sich Tyrannen vor solchen aufrechten Menschen gefürchtet. Unzählige Menschen in Russland und auf der ganzen Welt trauern um Alexej Navalny. Keine Drohung konnte sie davon abhalten, bei der Beerdigung diesem Märtyrer der Freiheit die letzte Ehre zu erweisen.
Liebe Schwestern und Brüder,
wir spüren: der Weg Jesu ist aktuell, auch in unserer Zeit. Es ist ein Weg, den auch heute und jetzt in dem Moment, in dem wir hier in Lohr im Regen stehen, irgendwo auf der Welt gehen. Es ist ein unbegreiflicher Weg. Er ist Irrsinn in der Augen der Menschen, wenn ja, wenn wir nicht sagen:
„Ich sehe was, was du nicht siehst, und das sind die Werte von Freiheit und Demokratie.“
„Ich sehe was, was du nicht siehst, und das sind Glaube, Hoffnung und Liebe in unserer christlichen Überzeugung.“
Weder die Werte unserer Gesellschaft noch die Tugenden unseres Glauben kann man sehen.
Der Mensch aber, der tiefer blickt und sie ergreift, lässt sie nie mehr los, selbst wenn es ihn das Leben auf dieser Erde kostet. Denn auch das ist ein tiefes Geheimnis unseres Glaubens, das wir heute an Karfreitag besonders bekennen:
Nur wo sich jemand selber loslässt und es wagt, das eigene Ich hintanzustellen und es übersteigt auf den anderen hin, auf die Beziehung zum Du, auf die Familie, auf den Dienst am Nächsten, an der Gesellschaft, am eigenen Vaterland, nur da gewinnt das Leben Sinn, Erfüllung, Glück.
Wo jemand nur um sich selbst kreist und nur für sich selbst sorgt, da wird das Herz kalt und verliert das Leben an Tiefe, da gleitet es ab in Stumpfsinn und Langeweile inmitten von Lifestyle und Konsum.
Liebe Schwestern und Brüder,
ich danke Ihnen allen von Herzen, dass Sie in der Lohrer Karfreitagsprozession uns alle Jahr für Jahr die Augen öffnen für die wahre Wirklichkeit:
„Ich sehe was, was du nicht siehst und das sind Menschen, die unerkannt mitten unter uns stehen. Sei bezeugen uns, dass es Glaube, Hoffnung und Liebe gibt auf dieser Welt, sie treten unerschrocken ein für Werte von Freiheit und Demokratie – selbst um den Preis des eigenen Lebens.“
Machen wir uns nicht nur an Karfreitag immer wieder gegenseitig aufmerksam auf das, was man auf den ersten Blick nicht gleicht sieht, auf Glaube, Hoffnung und Liebe, auf das Reich Gottes, das in Jesu Leben greifbar geworden ist und in seinem Sterben für uns alle offensteht.
Amen.