Predigt 16. Sonntag A – 23. Juli 2023 (zu Röm 8,26-27(
“Das Gebet ist die höchste Leistung, deren der Menschengeist fähig ist.” (Edith Stein)
In die Wiege gelegt war diese Einsicht der „Jüdin und Christin“ Edith Stein sicher nicht. Sie wuchs zwar in einem jüdisch-orthodoxen Elternhaus auf, distanzierte sich aber schon früh von ihrer Religion und ging auf Abstand zum Glauben an Gott.
Im Rückblick auf ihre Jugendzeit erzählt sie: „Ich habe mir das Beten bewusst und aus freien Entschlüssen abgewöhnt.“ Stattdessen beginnt sie in ihrer Heimatstadt Breslau ein Studium der Literatur, Geschichte und Psychologie, wechselt aber bald zur Philosophie. Sie entdeckt für sich den phänomenologischen Ansatz von Edmund Husserl, dem sie schließlich als Assistentin nach Freiburg folgt und bei dem sie ihre Promotionsarbeit schreibt. Zufällig auf die Biographie der Heiligen Theresa von Avila gestoßen, beginnt sie sich für Mystik zu interessiert und lässt sich schließlich katholisch taufen. Nach einer Zeit als Lehrerin und Aktivistin für Frauenrechte in Speyer und Münster tritt sie in den Karmel in Köln-Lindenthal ein. Zu diesem Zeitpunkt verdunkelten schon die Wolken der nationalsozialistischen Rassenideologie und Judenhasses die Wolken am Himmel der Zeit. Sie emigriert mit ihrer Schwester Rosa nach Echt in Holland, wird am 2. August 1942 verhaftet und in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo sie am 9.8.1942 in der Gaskammer ermordet wurde.
Ich finde es sehr eindrucksvoll, dass ein so kluger Mensch wie Edith Stein, die einen langen Weg zurücklegen musste, um diese Wahrheit zu erkennen, so überzeugt nicht Logik, Philosophie und Forschung an die erste Stelle unserer Geistesleistungen setzt, sondern das Gebet. Edith Stein verkörpert über die katholische Kirche hinaus die Tragödie und das Versagen der Menschheit und leider auch der Kirche im 20. Jahrhundert. Sie, die allen Grund gehabt hätte, an Gott zu zweifeln, kann im Rückblick auf ihr Leben nicht anders als ihre jugendliche Einstellung zum Beten zu korrigieren und zu bekennen:
“Das Gebet ist die höchste Leistung, deren der Menschengeist fähig ist.”
Diese Aussage gibt zu denken, stellt aber auch Fragen, die leicht aus einem Missverstehen herrühren können: Kann das Gebet eine Leistung wie ein Sportwettkampf sein? Braucht es dann Zielstrebigkeit und Ehrgeiz? Misst es sich am Erfolg? Ist es also dann ein gutes Gebet, wenn man bekommt, was man will?
Natürlich ist auch für Edith Stein das Gebet keine Leistung im Sinne einer Anstrengung wie im Sport, die mit Toren und Erfolgen gekrönt wird. Natürlich will das Gebet Übung, aber das, was in ihm geschieht, kann ich nicht durch Training und Nachdenken erzwingen. Für Edith Stein geht es nicht um einen denkerischen Prozess, der schließlich zu einer neuen Erkenntnis führt und somit gleichsam einen intellektuellen Fortschritt markiert. Sie versteht Beten als eine „gelebte Beziehung mit Gott“, die immer mehr ihren Lebensstil prägt und sich auswirkt im Sinne eines Gebetes, das sich in unserem Messbuch findet und das ich sehr aussagekräftig finde: „Herr, unser Gott, du hast gewollt, dass sich das Bild deines Sohnes auspräge im Wesen der Getauften, die du zu deinem Tisch geladen hast. Ermutige uns, dem Evangelium zu folgen und deinem Heiligen Geist Raum zu geben.“
Beten ist keine Leistung, die mit Erfolg belohnt wird. Es ersetzt aber auch nicht das eigene Bemühen. Das hat schon Martin Luther gewusst, der einmal sagte. „Man muss beten, als ob alles Arbeiten nichts nützt und arbeiten, als ob alles Beten nichts nützt.“ Beten ist kein Vertrag mit Gott, in dem sich beide Seiten zu einer Leistung verpflichtet sehen. Gott bietet seine Gegenwart und Hilfe an, die wir spüren und erfahren, aber nicht einfordern können. Wäre unser Verständnis von Beten so geschäftlich geprägt, müssten wir uns vielen offenen Fragen stellen: Wenn wir doch Sonntag für Sonntag in den Fürbitten für eine glaubwürdige Kirche beten, warum gibt es dann diese Skandale, Verbrechen und Streitigkeiten? Wir beten unablässig für ein Ende des Krieges in der Ukraine, im Jemen oder der Streitigkeiten im Heiligen Land, aber nichts passiert. Wer Beten in diesem Sinne versteht, der betet „unmöglich“, denn er reduziert Gott auf einen Zauberer, der alle Probleme und Sorgen einfach verschwinden lassen kann, aber uns so jegliche Freiheit nimmt, die er dem Menschen von Anfang an gegeben hat.
Beten ist vielmehr die wachsende Bereitschaft, Gott und dem Evangelium Jesu Raum im eigenen Leben zu geben und so das eigene Wesen prägen zu lassen vom Vorbild Jesu. Es ist eine Haltung, keine Aktivität.
Diese Sicht eröffnet auch der Apostel Paulus heute in der zweiten Lesung aus dem Brief an die Römer. Der Hintergrund ist schnell beschrieben: Paulus schreibt an die Gemeinde in Rom, um seinen Besuch vorzubereiten. Im Brief legt er seine Theologie dar. Im 8. Kapitel seines Briefes führt er aus, dass der Geist Gottes beim Beten mit uns und für uns betet. Gottes Geist, davon ist er überzeugt, macht unsere Sorgen zu seiner Sorge, indem er sie vor Gott bringt. Intensiv hat sich Paulus zuvor schon mit dem Thema „Hoffnung“ beschäftigt und nicht nur Geduld, sondern eine solidarische Ausdauer, die auch das Seufzen der ganzen Schöpfung nicht übersieht, als Haltung des Evangeliums den Empfängern seines Briefes ans Herz gelegt. Für Paulus ist die Schwachheit, von der jetzt spricht, nicht nur ein beklagenswerter Zustand, in der ein Mensch keinen Ausweg aus einer Not mehr sieht. Vielmehr kehrt er immer wieder zu der Einsicht zurück, die er selbst gemacht hat: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“ (2 Kor 12,10) Die eigene Schwachheit wird zum Ort, an dem er Gottes Kraft und Nähe erfahren kann.
Gegenüber den Römern benennt Paulus eine besondere Schwäche, nämlich die des Betens: „Denn wir wissen nicht, um was wir in rechter Weise beten sollen.“ Jesus hat uns das Beten gelehrt, die Kirche bewahrt einen Jahrtausende alten Gebetsschatz und jeder von uns hat aus Kindertagen Gebete, die ihm lieb und vertraut sind. Wir wissen nicht, wie und um was wir beten sollen? Berührende und gut formulierte Gebetstexte gibt es viele, aber Paulus ist ein guter Beobachter und ahnt, dass in ihnen nicht alles vor Gott kommt, was uns bewegt. Es bleibt vieles unausgesprochen, nicht zuletzt deshalb, weil wir nicht immer genau wissen, was wir wirklich wollen und was uns umtreibt. Es ist leicht ein Bittgebet für die Kinder, Enkel, Freunde und die ganze Welt vor Gott zu tragen. Aber darf ich um Gesundheit und Wohlergehen bitten? Ist das nicht egoistisch, wenn ich doch zugleich höre, dass ein Christ auch bereit sein muss, sein Kreuz auf sich zu nehmen? Oft genug weiß ich selbst nicht, was der Tag bringen wird, und es fällt mir schwer, die richtigen Bitten vor Gott zu bringen. Vieles wird nicht gesagt, das doch mein Leben beeinflusst. Da macht Paulus Hoffnung und sagt uns zu, dass in der Unordnung unseres Denkens, Hoffens und Fühlens der Geist Gottes weiß, was wir brauchen, und für uns eintritt. Gott kennt uns besser als wir uns selbst. Auch das Ungesagte ist bei ihm schon gehört und verstanden. Beten erschöpft sich nicht in Worten, sondern lebt aus der Hoffnung und dem Vertrauen, dass der Geist die Bitten in unseren Herzen übersetzt und Gott sie aufnimmt.
In der Zeitschrift Christ in der Gegenwart fand ich vor einiger Zeit einen klugen Gedanken der Redakteurin Heike Helmchen-Menke:
„Könnten Gebete Wünsche erfüllen, sähe die Welt anders aus. Gebete verändern weder Gott noch – im magischen Verständnis – das Weltgeschehen. Vielmehr verändern sie den betenden Menschen. Wer seine Freude und Trauer, sein Leid, sein Staunen und seine Fürbitten an Gott adressiert, lebt in der begründeten Hoffnung, nicht allein zu sein. Papst Franziskus beschrieb jüngst das „wahre Gebet als Vertrautheit mit Gott“. Betende Menschen hoffen, dass Gott die Welt hält, dass er jedes Sandkorn und jedes Kopfhaar gezählt hat und dass nicht alles allein vom Menschen abhängt. Mit dieser Hoffnung gestärkt kann ein Mensch so handeln, als hinge alles von ihm ab. So verändert das Beten dann doch die Welt.“ (Quelle: CHRIST IN DER GEGENWART 2022, Heft 42, S. 16)
In diesem Sinne verstanden ist die Aussage von Edith Stein, dass das Gebet die größte Leistung darstellt, zu der der Menschengeist fähig ist, gut einzuordnen und lädt ein, sich einem ihrer bevorzugten Gebete anzuschließen, in dem sie jeden Tag neu um Gelassenheit und Führung durch Gott bittet:
Ohne Vorbehalt und ohne Sorgen
leg ich meinen Tag in Deine Hand.
Sei mein Heute, sei mein Morgen,
sei mein Gestern, das ich überwand.
Frag mich nicht nach meinen Sehnsuchtswegen,
bin aus Deinem Mosaik ein Stein,
wirst mich an die rechte Stelle legen,
Deinen Händen bette ich mich ein. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer Lohr a. Main
16_Gebet_ist_die_größte_Leistung_des_menschlichen_Geistes_2023.pdf