“Wunder gibt es immer wieder” – Predigt 18. Sonntag im JK B

Liebe Schwestern und Brüder,

Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene“ heißt ein Papier, das der Vatikan kurz vor Pfingsten veröffentlicht hat. Ein langer Titel für eine kurze Frage: Wie geht die katholische Kirche mit Wundern um? Einerseits begleiten Wunder die Glaubensgeschichte des Christentums. Jesus selbst wird als Wundertäter wahrgenommen: Speisewunder, Heilungen, Stillungen von Naturgewalten und Totenerweckungen sind fester Bestandteil aller vier Evangelien. In dieser Tradition wurde immer bejaht, dass Gott auch bis in unsere Tage hinein Wunder vollbringt.

Große und kleine Wallfahrtskirchen legen Zeugnis ab, wie die Erkenntnis, dass Gott Naturgesetze außer Kraft setzt und Unerwartetes bewirkt, die Beziehung zwischen Geschöpf und Schöpfer prägt. Andererseits sind viele Menschen heute kritisch geworden gegenüber einem „naiven Wunderglauben“. Theologen entzaubern die Wunder Jesu und wollen heute fast nur noch die rational, medizinisch oder psychologisch erklärbaren Phänomene gelten lassen. Das passt zur Einstellung heutiger Menschen, die in allem Unerklärlichen eine natürliche Ursache erkennen wollen. Die vatikanischen Experten standen also in ihren Darlegungen über die Beurteilung von übernatürlichen Ereignissen in einer Spannung zwischen dem aufgeklärten Denken und der Tradition unserer Kirche, die die Wundererzählungen der Bibel nicht als Fake News entlarvt sehen will. Es fällt auf, dass in dem Schreiben die Hürden für die offizielle Anerkennung eines Wunders gesetzt deutlich höher gesetzt wurden.

Wie versteht Jesus selbst seine Wunder? Im heutigen Evangelium klärt er seine Sicht.

Der entscheidende Satz findet sich bereits am Anfang des Dialogs zwischen Jesus und den Menschen, die ihn suchen:Jesus antwortete ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid.“

Vorausgegangen sind zwei mächtige Wundertaten. Das sechste Kapitel des Johannesevangeliums berichtet, dass Jesus zunächst 5000 Menschen durch die wunderbare Brotvermehrung speist. Als er merkt, dass sie ihn wie eine Art Fetisch festhalten wollen, zieht er sich zurück und schickt die Jünger mit den Booten über den See. Dort geraten sie in einen gewaltigen Sturm, so dass sie unterzugehen drohen. Jesus aber kommt ihnen auf dem See gehend zu Hilfe und stillt das Unwetter. Sowohl eine große Menschenmenge als auch die kleine Gruppe der engsten Jünger haben also Wunder miterlebt. Jetzt finden die Menschen, die ihn suchen, Jesus in der Synagoge von Kafarnaum. Die Stimmung ist nicht feindselig oder sarkastisch. Die Menschen sind ehrlich interessiert und Jesus zeigt sich durchaus bereit, ihnen neue Perspektiven zu öffnen. Erst im Verlauf der Rede werden sich aggressive und anklagende Untertöne auf beiden Seiten hörbar wahrnehmen lassen. An diesem Punkt, dem Beginn der sog. „Brotrede“, ist die Stimmung aber eher neugierig und offen.

Der abstrakt klingende Gegensatz „Zeichen“ und „Brot“ lässt sich schnell auflösen. Die Menge war so beeindruckt von der wunderbaren Brotvermehrung, dass sie Jesus zum König oder REbellenführer erheben will. Es geht nicht um das, was Jesus sagt, sondern um die Sicherheit, dass er ihnen Nahrung und sicher noch viel mehr geben kann. Jesus nimmt den Hunger der Menschen ernst, sonst hätte er nicht das Wunder vollbracht, aber er möchte, dass sie tiefer sehen und über den Horizont der kurzfristigen Sättigung verstehen, wer er ist und was er ihnen wirklich geben kann. In den Kapiteln 6 bis 15 wird Jesus in den sog. sieben „Ich-bin-Worten“ allen Interessierten und später nur den Jüngern den Horizont öffnen, was er für ihr Leben bedeutet. Es sind sprechende Bilder, wenn Jesus sagt: Ich bin das Brot des Lebens, das Licht der Welt, die Tür, der gute Hirte, die Auferstehung und das Leben, der Weg und die Wahrheit und das Leben, der wahre Weinstock.

Spricht er am Ende ausschließlich zu den Jüngerinnen und Jüngern, so nutzt er im Austausch mit allen Interessierten die ersten vier Bilder aus der Alltagswelt, die jedem vertraut sind. Brot ist zuerst Nahrungsmittel und Lebensgrundlage. Darüber hinaus aber gehört es in allen Religionen zum Ritus der Begegnung zwischen Gott und Mensch, v.a. aber weckt es Erinnerungen an Tischgemeinschaft, Sorglosigkeit und Fülle und antwortet so auf die Sehnsucht des Menschen, den Hunger nach Sinn und gelungenen Leben zu stillen. Jesus verkündet das Gottesreich nie abstrakt. Was nützen gute Worte, wenn der Mensch leidet. Daher steht die Sättigung der hungrigen Mägen am Anfang, aber Jesus will hier nicht stehen bleiben. Das Wunder des Brotes in der einsamen Gegend ist ein Zeichen, also ein Verweis, was dem Menschen gelingen kann, der sich ihm öffnet: Leben in Zuversicht, ohne Angst vor Stillstand, Erschöpfung und Orientierungslosigkeit. Der Mensch, der das Wunder richtig versteht und zu Jesus findet, weiß: Hier bist du richtig. Im Vordergrund steht nicht, dass Jesus Brot gibt, sondern dass er das Brot des Lebens ist. Das Wunder muss zum Zeichen werden und das Verständnis öffnen, wer Jesus ist. Es nicht entscheidend, ob Jesus 5000 oder 50 Menschen satt macht, sondern die Erkenntnis, dass er um ganz banale Nöte unseres Lebens weiß, sie ernst nimmt und Abhilfe schafft, wenn wir in eine aussichtslose Lage geraten.

Heute sind wir schnell mit dem Begriff „Wunder“ und misstrauen ihm gleichzeitig. Technik, Internet und Entertainment können wundervolle Illusionen schaffen, die uns faszinieren und fragen lassen „wie kann das sein?“, aber wir wissen, dass dahinter keine übernatürlichen Begründungen zu vermuten sind. Die Unterhaltungsindustrie kann uns heute jedes Wundes vor Augen führen, aber keine Wunder vollbringen. Wunder sind erklärbar geworden, aber dennoch haben wir Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen und Unerwarteten, nach Heilung und Ruhe, die wir nicht selbst schaffen können.

Der Vatikan hat nun in dem o.g. Schreiben klargestellt, wie Wunder, die im kirchlichen Kontext zum festen Bestand der Glaubensweitergabe gehören, einzuordnen sind. Sie sind keine nachträglichen Erfindungen oder Mythen, keine Massenillusionen oder Relikte einer wundergläubigen und unaufgeklärten Zeit. Zugleich binden sie den Glauben nicht an das Fürwahrhalten von solchen wunderbaren Ereignissen. Jesus wehrt sich schon in den Evangelien gegen eine Reduzierung auf das außergewöhnliche Geschehen. Ihm geht es darum, dass die Menschen, die es erleben, den Schritt wagen, ihn zu erkennen. In ähnlicher Weise will die aktuelle Stellungnahme des Vatikans zu Wundern einen Missbrauch verhindern und die Gläubigen nicht zu einer Frömmigkeit drängen, die auf Sehen und Erleben fixiert wird. Wunder können geschehen, müssen es aber nicht. „Die Menschen sind eingeladen, an sie zu glauben, sollen sich aber nicht dazu verpflichtet fühlen“ (in: Die Sache mit den Wundern, in: CiG 25/ 2024) Die unterschiedliche Beurteilung von Medjugorje oder Lourdes trennt Katholiken nicht. Es geht immer darum, die tiefere Wahrheit zu entdecken. Wundererzählungen, ob in der Bibel oder in der Geschichte der Kirche verankert, wollen nicht als detailgetreue Berichte gelesen, sondern als Hoffnungsgeschichten verstanden werden. Sie helfen Menschen, dem größten Wunder zu trauen, dass Christus nämlich den Tod besiegt hat und uns das Leben im Fülle erwartet. Alle Wunder im Neuen Testament, ob Heilungen, Speisungen, Naturbeherrschung oder Totenauferweckungen, sind Hinweise, dass das ewige Leben nicht ein abstrakte Vorstellung ist, sondern schon jetzt die grenzenlosen Möglichkeiten des Schöpfergottes erfahren werden können. Kurt Erlemann, Professor für Neues Testament und Alte Kirche in Wuppertal, schreibt daher: „Die Wundertexte sind Storys gegen die Hoffnungslosigkeit. Wer ihnen die Spitze abbricht, beraubt sie ihres Welt verändernden, Mut machenden, Hoffnung gebenden Potenzials.“ (s.o. CiG 25 / 2025). Es geht nicht um Zahlen und Diagnosen, sondern um die Kraft zur Hoffnung, die Wundererzählungen wecken können und sie so auch für uns bedeutsam werden lassen.

1970 vertrat Katja Ebstein beim Eurovision Song Contest sehr erfolgreich unser Land mit dem Lied: „Wunder gibt es immer wieder“, dessen Refrain seht treffend ins Wort bringt, was Wunder auch für Menschen bedeuten können, die mit Lourdes, Fatima, Medjugorje oder aber auch Mariabuchen ihre Probleme haben. Sie singt: „Wunder gibt es immer wieder / heute oder morgen / können sie geschehn. / Wunder gibt es immer wieder / wenn sie dir begegnen / mußt du sie auch sehn.“

Ich möchte ergänzen: Du muss sie nicht nur sehen, sondern auch verstehen als Zeichen für die Zukunft, die Gott für jeden von uns bereit hält. Wundergeschichten zwingen uns keine magische Weltsicht auf, sondern ermutigen zur Hoffnung, dass Jesus unseren Hunger nach wahrem Leben sättigen wird. Amen.

Sven Johannsen, Pfr.

18, Wunder gibt es immer wieder