Liebe Schwestern und Brüder
Lieben Sie ihre Heimat? Was ist Heimat eigentlich?
Viele von Ihnen kommen aus unserer Stadt oder unserem Dorf, sind hier groß geworden, haben hier ihre Familien gegründet, pflegen hier ihre Freundschaften und sind Mitglieder in Vereinen, Gemeinden, Kapellen oder Chören. Sie sind hier verwurzelt und können sich kaum vorstellen, einmal den Lebensort zu wechseln. Nicht weniger groß ist die Anzahl derer, die zu Beginn ihres Lebens nie daran gedacht haben, dass sie einmal hier wohnen werden. Mancher hat hier Heimat gefunden und möchte bleiben, mancher sieht sich immer noch als Fremder, der eigentlich ganz woanders hingehört, aber gezwungenermaßen jetzt hier Heimat nehmen musste. Für manchen scheint die alte Heimat „Dorf/ Stadt“ verloren, weil sich so viel verändert hat und nichts mehr an das erinnert, was die eigene Kindheit oder Jugend geprägt hat.
Heimat ist heute ein zwiespältiger Begriff geworden. Wir setzen uns ein für unsere Heimat, unsere Stadt, unser Dorf. Wir gründen Heimatvereine, die sich um die Gestaltung von lebendigen Dorfplätzen und Wohnquartieren kümmern, grüne Lebensorte pflegen und unser Umfeld so gestalten, dass Jung und Alt zusammenkommen und Kinder hier den Raum finden zum Aufwachsen. Heimat ist so ein lebendiger Ort, der v.a. Geborgenheit und Lebensqualität bietet. In einer solchen Heimat wird gelebt und sie wird gestaltet.
Auf der anderen Seite wird der Begriff „Heimat“ von Populisten beschworen und so missbraucht, dass er zur Ablehnung und Ausgrenzung von Fremden dient. Von manchen Meinungsmachern wird der Heimatbegriff so eng gedeutet, dass man selbst schon zögert, sich dazu zu bekennen, dass man die eigene Heimat liebt. Wie absurd ist die Diskussion, wann ich welche Fahne während der EM aufhängen darf?
Was ist für Sie Heimat? Beizfleisch mit Sauerkraut? Klöße, die Bewohnern eines unserer Stadtteile sogar den Spitznamen geben? Der Zwetschgenkuchen, den nur die Oma so backen konnte? Oder sind es Häuser, Straßen und Ecken, die sich wie ein Fotoalbum mit Erinnerungen an meine Kindheit verbinden?
Gerüche? Ein Fluss? Die Schule? Berggipfel? Lehrer, Pfarrer, Nachbarn, die schon immer da waren?
Der Theologe Friedrich Schorlemmer hat „Heimat“ weit gefasst und auf die treffende Definition gebracht: „Heimat ist der Ort, an den die Seele gern zurückkehrt.“ Weiter schreibt er: „Heimat aber, die ich meine, umfasst alles, was unser Selbst ausmacht. Jeder Mensch braucht etwas, wozu er “mein” sagen kann, ohne dass er es gleich besitzen muss: Herkunft und Bindungen, Menschen und Landschaften, Bücher und Erinnerungen, Gefühlswelten und Gedankengebäude.“ (in: DIE ZEIT 29/2021) Ich finde diesen Gedanken sehr wohltuend: Es geht nicht um Besitz, den ich gegen andere verteidigen muss, sondern um das Fundament meines „Selbst“. Dann aber beschränkt sich Heimat nicht auf ein Ortsschild. Sie umfasst Gefühle, Erinnerungen und v.a. Menschen. Heimat ist dort, wo Menschen leben, denen ich verbunden bin und die mir Halt und Obdach geben. „Heimat ist immer dort, wo wir verstanden werden und wo wir verstehen“, so Schorlemmer.
Im heutigen Evangelium muss Jesus die bittere Erfahrung machen, dass er seine „alte“ Heimat verloren hat. Man kennt ihn und seine Familie. Vielleicht weiß mancher noch, dass er mit seinem Vater Josef das Haus gebaut hat. Die Älteren haben vielleicht auch noch bruchstückhafte Erinnerungen daran, dass die Umstände seiner Geburt mysteriös waren. Altersgenossen saßen neben ihm in der Toraschule und haben die gleiche solide, aber nicht sehr weit gehende Schulbildung erfahren. Sie haben miteinander gespielt, gearbeitet und gebetet, waren am Sabbat nebeneinander in der Synagoge gestanden, haben sich über die alten Männer lustig gemacht, wurden zur Ruhe ermahnt und gleichzeitig in den Kreis der mündigen Gemeindemitglieder aufgenommen. Mehr Heimat geht nicht. Vielleicht waren es diese Erinnerungen, die Jesus die 45 km von Kafarnaum zurück in die Heimatstadt Nazaret führten, die er noch vor gar nicht so langer Zeit verlassen hat. Aber in der Zwischenzeit ist viel geschehen. Im Markusevangelium ist Kafarnaum jetzt „seine Stadt“ geworden und heute erleben wir, wie Nazaret zur Fremde mutiert. Hier bestehen keine Bindungen mehr. Einige Zeilen vorher schon haben wir am Sonntag vor zwei Wochen gehört, dass auch die Familien keine Heimat mehr für Jesus bildet. Kafarnaum ist ihm neue Heimat geworden, nicht weil dort die Lebensqualität so viel höher ist, sondern weil dort Menschen leben, die ihn nicht festlegen und misstrauisch in Frage stellen, sondern sich ihm anvertrauen. Am vergangenen Sonntag waren wir mit Markus in der Stadt, haben Jairus, den Synagogenvorsteher, getroffen, der sein ganzes Vertrauen auf Jesus setzt und ihn um die Heilung seiner sterbenskranken Tochter bittet. Wir standen neben der Frau, die seit zwölf Jahren an Blutungen litt, ihr Vermögen verloren hatte und von den Menschen ausgegrenzt wurde, die aber in einem schlichten Glauben die Berührung mit Jesus sucht, weil sie glauben kann, dass sie so geheilt wird. Hier hat er die Menschen, die sein Wort hören und aufnehmen, als „Mutter, Brüder und Schwestern“ bezeichnet. Es ist nicht so, dass Kafarnaum eine bessere oder gar frömmere Stadt war, aber hier schlug ihm nicht ein Klima der misstrauischen Ablehnung entgegen. Wir können dem Bericht des Markus entnehmen, dass es Jesus schmerzt, die Heimat verloren zu haben, aber auch sehen, wie er neue Heimat findet im Glauben von Menschen, die sich ganz in seine Hand geben. Heimat ist nicht in Quadratmetern messbar. Es ist der (geistige) Ort, an den die Seele gerne zurückkehrt, weil hier Menschen sind, von denen wir verstanden werden und die wir verstehen.
Sicher hat auch der Heilige Kilian und seine Gefährten ihre alte Heimat Irland immer wieder schmerzlich vermisst: das intensive Grün der Landschaft, die hohe Kultur in den Klöstern, die festen Glaubens-gemeinschaften in ihren Familien und Dörfern. Er zieht in die Fremde um Jesu Willen. Aber immer wieder können wir aus seiner Passio heraushören, dass er den Menschen in Franken wohlgesonnen ist und dass sie den Glaubensboten und seine Begleiter ins Herz geschlossen haben. Sie verließen ihre Heimat um Jesu Willen und fanden neue Heimat in der Gemeinschaft derer, denen sie das Evangelium verkündet haben und die sie durch die Taufe zu Kindern Gottes werden ließen. Heimat ist auch eine Verbindung im Glauben.
Zu unserer Heimat gehören die Kirchen, ob sie besucht werden oder nicht. Heimat heißt auch, die Kirche im Dorf lassen. Das scheint uns selbstverständlich, dabei ist ein wichtiger Begriff von Kirche, nämlich Pfarrei, von seinem Wesen der Gegenentwurf zu Heimat. Pfarrei leitet sich ab von altgriechischen paroikía, was „zugereist“, „nebenan“ und „in der Fremde wohnend“ bedeutet. Der Christ weiß sich also in der Fremde. Gotthard Fuchs meint sogar: „Dem Christentum ist von seinen Ursprüngen her ein fundamentaler Wandertrieb eingezeichnet. … Der Wanderprediger aus Nazaret war obdachlos und hatte „nichts, wohin er seinen Kopf legen“ konnte (Mt 8,20). Zu sehr war er schon von der kommenden Welt heimatlich umgetrieben, die er (Be-)Reich Gottes nannte. „Wir haben hier keine bleibende Stadt“, sagten frühe Christen, „wir suchen die zukünftige“ (Hebr 13,14).“ (in CiG 22/2018).
Pfarrei meint die mobile Heimat in einer Welt des Übergangs, der Ort, wo die Seele gerne hinkommt, weil sie dort die wahre Heimat ahnt, zu der sie unterwegs ist. Die Bleibe in der Fremde kann für uns Heimat werden, wenn wir sie nicht idealistisch überhöhen: Keine Pfarrei ist perfekt, weder der Pfarrer noch die Gemeindemitglieder, weder die Kirche noch die Gruppen in der Pfarrei. Weil es nur eine mobile Heimat und eine Bleibe in der Fremde ist, dürfen Menschen und Orte auch unzulänglich sein. Aber weil ich hier Menschen finde, an deren Erwartungen und Vorgaben ich nicht zwangsläufig scheitern muss, sondern die zunächst mit mir als Volk Gottes der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden unterwegs sind, darum kann ich auch über Schwächen und Fehler hinwegsehen, die mir den Blick verstellen für das Bergenden und Schöne, das mir Wurzel geben will.
„Heimat ist der Ort, an den die Seele gern zurückkehrt.“ Daran bauen wir als Haupt- und Ehrenamtliche in unseren Gemeinden, ein Ort zu sein, an den die Seele gern zurückkehrt, also eine Erfahrung für Menschen jeden Alters, die in ihnen das Gefühl weckt, willkommen, angenommen und begleitet zu sein auf der Suche nach der Begegnung mit Gott als Urgrund meines und allen Lebens, letztlich ein Zuhause in einer Welt, die uns immer mehr „unbehaust“ sein lässt. Als Christen sind wir das wandernde Gottesvolk durch die Zeiten, Menschen auf dem Weg, aber nicht Getriebene und Flüchtende. Wir werden als Kirche ein Ort sein, an den die Seele gern zurückkehrt, wenn junge Menschen hier erfahren, dass sie Raum haben sich zu entfalten, Menschen in der Lebensmitte zur Ruhe kommen, weil sie sich hier nicht ständig beweisen müssen, und alte Menschen aufleben können, weil sie nicht das Gefühl haben, überflüssig zu sein und anderen Menschen zur Last zu fallen. Heimat in der Fremde als Bild für Gemeinde hat nichts mit Weltflucht zu tun, sondern mit dem Wissen, „dass wir in dieser Welt nicht ganz zu Hause sind“, wie es Heinrich Böll gesagt hat. Dann sperren wir uns nicht selbst in ein Gefängnis der Unsicherheit und Abschottung ein, sondern bilden einen einladenden Ort für Mensch, die Halt und eine Mitte suchen in Gott. Dafür hat er seine Kirche in die Welt gesetzt, dass sie Heimat wird denen, die auf dem Weg sind. Amen. (Sven Johannsen)