Predigt Pfingsten 2024 – Der Geist gibt den Mut, das Leben zu wagen

Liebe Schwestern und Brüder

„Klettern in der Kirche“ unter diesem Motto hat die Evangelische Stiftsgemeinde Mosbach nun schon dreimal eingeladen zum erlebnispädagogischen Angebot „Kletterkirche“. Dann steht der Pfarrer nicht mit beiden Füßen auf seiner Kanzel, sondern hängt wortwörtlich in den Seilen. Denn es spannen sich Seile und Gerüste  durch den ehrwürdigen Kirchenraum, in luftiger Höhe klettern Jugendliche und Senioren setzen auf einem Drahtseil über dem Kirchenraum vorsichtig einen Fuß vor den anderen. (Quelle: CHRIST IN DER GEGENWART 2022, Heft 22, S.1) Ein unpassendes Event, um Aufmerksamkeit zu erlangen? Die Verantwortlichen sehen es anders. Die Besucher können ihre Kirche aus einem ganz neuem Blickwinkel betrachten. Vor allem ermöglicht die Aktion, einiges über die Beziehung von Glauben und Leben zu entdecken.

Ich kann mich gut der Idee anschließen, den Schwebebalken / die Slackline als Bild für unser Leben zu deuten. Es ist oft kein breiter Boulevard, auf dem es sich ungehindert flanieren lässt. Viel öfters erfahren Menschen ihre Lebenszeit als Gratwanderung zwischen Gut und Böse, zwischen Erfolg und Scheitern, zwischen Glück und Unglück, zwischen Freud und Leid. Ein kleiner Schritt und schon ändert sich die Situation und ich verliere meinen Stand im Leben. Oft kann ich mich noch so bemühen und jeden Schritt im Leben überlegen, komme aber dennoch ins Wanken, weil die Umstände sich verändern, Ängste mich überkommen, Sorgen meine Gedanken in eine ganz andere Richtung lenken. Wir komme ich gut und glücklich durchs Leben? Oft liegt das nicht in meiner Hand. Das Leben als Drahtseilakt? Macht das nicht Angst? Nicht unbedingt! Vielmehr sagt mir das Bild, dass ich das Leben auch wagen muss, damit es gelingt und ich mich nicht von der Zeit und den Ereignissen überrollen lassen darf. Um im Leben zu bestehen, braucht es Mut. Sich einfach treiben zu lassen in der Hoffnung, dass schon alles gut geht, ist eine Utopie, die uns letztlich ins Wanken bringt. Ich muss meine Schritte überlegen, darf aber auch keine Angst haben, sie zu setzen. Mut gehört gewiss dazu. Dieses große Tugend schreiben wir Christen dem Heiligen Geist zu. Er ist der Motor, unseren Weg zu gehen, die Kraft, sich zu konzentrieren auf das, was zählt, und das Netz, das mich auffängt, wenn ich zu fallen drohe. Das Bild von der Slackline / dem Schwebebalken trifft für mich viel mehr die Lebenserfahrung vieler Menschen als die Autobahn, auf der ich mich immer auf der Überholspur befinde.

Wie Sie habe ich gerade unsere Maleen / Sara Elena bewundern, wie leichtfüßig, sicher und elegant sie über den Schwebebalken / die Slackline wandeln und dort auch gewagte „Übungen“ so absolvieren als wäre es eine angeborene Bewegung. Ich wäre noch nicht einmal auf den Balken / die Slackline hinaufgekommen, geschweige  denn auch nur einen Schritt gegangen. Wahrscheinlich hätte ich mich vor Ihren Augen zum Tanzbären gemacht, der für reißender Lacher gesorgt hätte. Also lasse ich das besser.

Maleen / Sara Elena aber ist sicher klar, wie der Weg über das schmale Turngerät gelingen kann. Natürlich gehört Mut dazu, aber Mut kann schnell zu Übermut werden und dann gibt es die Katastrophe. Ich habe mich umgehört, worauf Turnerinnen zu achten haben. Drei Impulse scheinen mir für das heutige Hochfest des Heiligen Geistes eine Anregung für unsern Glaubensweg durch das Leben, das ja auch mitunter ein Drahtseilakt ist, hilfreich. Begleiten kann uns eine erfahrene Turnerin, Schwester Teresa Zukic, die mancher von Ihnen von Ihren Fernseh-auftritten kennt. Schwester Teresa wird 1964 in Slavonski Brod geboren und kommt mit ihrer Familie von Kroatien nach Weinheim an der Bergstraße. Sie wird eine begabte Turnerin am Schwebebalken und besucht später das Sportinternat in Bad Sooden-Allendorf. Die Leistungs-sportlerin wird u.a. hessische Meisterin am Schwebebalken und badische Meisterin im Mehrkampf. Kurz vor dem Abitur, so schreibt sie es selbst, entdeckt sie in einer Nacht die Bibel, lässt sich taufen und tritt ins Kloster ein. Die Turnerin am Schwebebalken wird als Nonne Skateboard fahren und bis heute durch eine unkomplizierte Sprache vielen Menschen eine gute geistliche Wegbegleiterin werden. Aus dem Nachdenken über ihren Glaubensweg kommen Gedanken, die uns auf dem Balanceakt zwischen Glauben und Leben bereichern können:

 

  1. Nicht ängstlich auf den nächsten Schritt fixiert, aber das Ende fest im Blick haben.

Woran würde ich scheitern? Wahrscheinlich letztlich an der Angst, dass ich scheitern werde. Ich steige schon auf diesen Schwebebalken und denke „du kriegst niemals auch nur einen Fuß vor den anderen“ und schon passiert es, dass ich ins Wanken gerate.
Es ist klug, im Leben vorausschauen zu sein und sich gut einschätzen zu können. Es ist aber falsch, sich auf einzelne Momente und Herausforderungen zu fixieren. Schülerinnen und Schüler lassen sich den Mut rauben, weil sie bestimmte Worte in Latein niemals lernen oder diese oder jene Formel in Mathematik niemals kapieren werden. Es wäre übermütig, dieses Manko zu ignorieren. Es wäre aber reine Verzweiflung, deshalb sich selbst als unfähig und dumm einzuschätzen. Es kommt auf das Ziel an. Wir stehen mitunter vor Aufgaben, die wir nur schwer bewältigen können, auch in den verschiedenen Rollen unseres Lebens. Eltern fragen sich, ob sie der Verantwortung gewachsen sind, ein Kind zu erziehen, ob sie wirklich immer alles richtig machen? Ist es nicht besser, auf ein Kind zu verzichten, wenn ich mir selbst die Rolle als Mutter und Vater nicht zutrauen? Der Blick auf den Schwebebalken lehrt mich, diese Sorgen nicht zu ignorieren: Ich kann fallen. Aber letztlich geht es doch um den Blick auf das Ende: Wie will ich gelebt haben? Was sehe ist als den Plan Gottes, den er in mich gelegt hat? Ich werde immer wieder vor schwere Aufgaben gestellt und Fehler machen. Aber am Ende zählt doch, ob ich gelebt habe, wie ich es als richtig erkannt haben, auch wenn nicht immer alles gepasst hat. Den Mut, das Ganze im Blick zu haben, erkenne ich in der Gabe des Heiligen Geistes. Er ist sicher auch die Stimme, die uns warnt, wenn wir übereifrig sind, aber er ist nicht die Stimme der Furcht, die uns einflüstert „Das kannst du nicht“, „Du wirst scheitern“ oder „die Andere sind besser als du“. Er ist die Gabe des Mutes, der uns das Wagnis des Lebens eingehen lässt, indem er uns immer auch das Ziel in Erinnerung ruft, nämlich unser Leben gelingen zu lassen. Mein Glaube sagt mir: Das Leben ist ein Wagnis, keine Gefahr, vor dem ich mich fürchten muss. Schwester Teresa erzählt aus ihrer eigenen Erfahrung: „Meine Anfangszeit im Glauben war die aufregendste Zeit meines Lebens; es war, als würde ich einen neuen Kontinent entdecken. Das Erste, was mir abhandenkam, war die Angst. Vorher glaubte ich immer, dass ich irgendwelche knallharten Bedingungen erfüllen müsste, um geliebt zu sein. Als ich zum Glauben an Jesus kam, nahm er mir diese Ängste und gab mir stattdessen eine große Portion Freiheit und Unabhängigkeit.“ Mit dieser Erfahrung im Hinterkopf kann ich Schritt für Schritt frei ohne Angst einen neuen Aufbruch wagen.

 

  1. Es braucht eine Körperspannung, die Festigkeit und Konzentration ausdrückt

Jede Turnerin weiß:  Ohne Körperspannung lässt sich kaum eine Übung korrekt und ästhetisch ausführen. Es geht nicht nur um das äußere Erscheinungsbild, wenn die Turnerin mit gestreckten Beinen und Füßen und den ausgebreiteten Armen ihre Übungen ausführt, sondern auch um Sicherheit. Ohne Haltung kommt man nicht nur auf dem Schwebebalken kaum einen Schritt voran. Ohne innere Haltung werde ich auch im Leben immer nur einer sein, der mitschwimmt und sich treiben lässt. Unsere Gesellschaft, die vor großen Herausforderungen steht, braucht Menschen mit Haltung, das spüren wir in dieser Zeit der Verunsicherung und der steigenden Aggression immer stärker. Wir können unsere Gesellschaft nicht populistischen Marktschreiern überlassen. Christen dürfen sich aus den schwierigen Diskussionen, die die Menschen heute beschäftigen nicht heraushalten: Die Frage nach der Gerechtigkeit zwischen arm und reich, der Einsatz für das Leben am Anfang und am Ende, die Bewahrung der Schöpfung, die Sorge um eine rasante Militarisierung unserer Welt – es sind unsere Themen, die wir nicht untergehen lassen dürfen, weil wir uns abschotten in eine fromme Traumwelt oder verlieren in innerkirchliche Strukturdebatten. Was der Geist einbringt, ist die Haltung der Verantwortung.  Margot Käsmann schreibt: „Haltung erlange ich, wenn ich mich gehalten weiß. Zur Haltung gehört auch zu wissen, dass ich Verantwortung für mein Leben übernehme, aber nicht allmächtig bin. Menschen des Glaubens überschätzen sich nicht selbst, sondern schätzen den, der sie hält und trägt. Wer Orientierung an den großen Worten der Bibel findet, an der Weisheit des Glaubens, wer sich von Gott gehalten weiß und die Kraft der alten Liturgien und Traditionen, der Lieder, Gebete und Rituale kennt, findet Mut, in den großen Konflikten der Gesellschaft zu bestehen. (CHRIST IN DER GEGENWART 2023, Heft 47, S. 3)

Der Geist ermutigt zu einer Haltung in der Welt, in der ich zwar Kompromisse suche, aber auch weiß, dass ich mich nicht verbiegen lassen kann, weil er mir die Verantwortung bewusst mache, die ich übernommen habe mit dem Geschenk des Lebens und der Gabe des Verstandes, der mich erkennen lässt, was wichtig ist. Schwester Teresa blickt auf ihre Erfahrung zurück und schreibt: „Ich hatte mich mit einer Menge unwichtiger Dinge beschäftigt. Seit ich um Jesus weiß, ist mein Leben reicher und anspruchsvoller geworden. Ich war zwar nicht durchschnittlich, aber auch nichts Besonderes. Was Wichtiges bist Du nicht, dachte ich immer, die Welt dreht sich auch ohne Dich. Durch Jesus weiß ich erst, wie wertvoll ich bin.“

Wer weiß, wie wertvoll er / sie selbst ist, der findet auch zu einer Haltung der Achtsamkeit und Verantwortung, in der ich in der Welt einen Standpunkt gewinne, der die Würde und die Kostbarkeit des Lebens respektiert und schützt.

 

  1. Wenn ich spüre, dass ich falle, brauche ich eine Hand, die mich hält.

Kein Meister fällt vom Himmel, auch unsere Sportlerinnen nicht. Sie brauchen es heute nicht mehr, aber am Anfang haben sie immer gewusst, dass da eine helfende Hand in der Nähe ist. Wie oft war es nötig, dass jemand schnell die Hand reichte, damit sie nicht fallen. Dieses Wissen um das Netz, das mich trägt, macht mich nicht abhängig vom anderen, ermutigt mich aber, zuversichtlich ein Wagnis einzugehen. Auf der Homepage des Kletterprojekts heißt es: „Es geht um Vertrauen und Wagnis, um Kooperation und Verantwortung, um Kommunikation und Anteilnahme“. Turner in einem Team wissen: Die Kommunikation muss stimmen, Vertrauen muss da sein. Wer auf dem Kletterpfad abrutscht, wird von einem sicheren Gurt gehalten. Und die Kirche? Sie bewegt sich gerade auf schwierigem Gelände. Viele haben das Vertrauen in sie verloren und trauen ihr auch nicht mehr zu, ihnen Halt fürs Leben zu geben. Aber gerade das ist doch unsere Aufgabe. „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand“, lautet eine wichtige Glaubenserfahrung. Dieses Wissen Menschen zu vermitteln, die sich auf die Gratwanderung des Lebens begeben, ist die vornehmste Aufgabe der Jünger Christi. Schwester Teresa wünscht Menschen, die neu zum Glauben gefunden haben: „Ich will gerne für Euch beten, dass Ihr nicht an die falschen Fuffziger, irgendwelche intellektuellen Schwätzer, geratet und dass Ihr Euch Menschen anvertraut, in denen ein inneres Feuer brennt. Das ist so wichtig! Bernhard von Clairvaux hat einmal gesagt: »Glühen ist mehr als Wissen.« Den Glauben kann man nicht mit dem Kopf erfahren und nicht mit intellektueller Akrobatik erobern – man braucht dazu vor allem das Herz. Und das muss angesteckt werden. Nur Feuer macht Feuer. Wenn Ihr jemand mit Feuer findet, dann könnt Ihr eine Menge Überraschungen erleben.“

In einer alten, aber immer noch ansprechenden Geschichte wird dieser Gedanke vertieft:

In einer kleinen Stadt spannt ein Seiltänzer sein Seil quer über den Marktplatz. Dann beginnt er auf dem Seil zu balancieren, mit einem Stab in der Hand, aber ohne Netz – und hoch über dem Boden. Die Menge hält den Atem an, während der Seiltänzer Kunststückchen vorführt und auf dem Seil von einem Ende zum anderen läuft. Tosender Beifall, die Menschen staunen und fordern eine Zugabe. Noch einmal macht sich der Seiltänzer auf den Weg, wieder schauen die Menschen mit offenen Mündern zu, staunen, jubeln, als er am anderen Ende ankommt. Nun nimmt er eine Schubkarre, setzt sie auf das Seil und blickt in die Menge. „Glaubt ihr, dass ich es auch schaffe, diesen Karren über das Seil zu schieben?“ – „Na klar“, rufen die Leute, „kein Problem, wir glauben es!“ – „Gut“, ruft der Seiltänzer, „wenn ihr mir das zutraut – wer möchte sich dann in die Schubkarre setzen?“

Nun wurden die Mienen der Zuschauer ängstlich. Das Geschrei verstummt, alle schweigen und blicken zu Boden. Nein, sich in den Karren zu setzen, dass ging dann doch zu weit! Da meldet sich ein kleiner Junge. „Ich setze mich in den Karren“, ruft er. Die Menschen sind unruhig, wollen ihn davon abhalten, doch zu spät. Der Junge setzt sich in die Schubkarre, der Seiltänzer beginnt seinen Weg, das Seil schwankt, der Wind pfeift. Doch Schritt für Schritt läuft der Seiltänzer über das Seil. Als er am anderen Ende ankommt, jubeln die Menschen ihm zu, klatschen, sind begeistert. Und der Junge wird gefragt: „Hast du denn gar keine Angst gehabt?“

„Nein“, antwortet der Junge, „warum auch? Der Seiltänzer dort, das ist ja mein Vater!“

Menschen in der Bibel haben sich nicht gescheut, Gott als Vater anzusprechen. Der Heilige Geist lehrt uns die einfache Wahrheit: Nein, es ist nicht völlig unvernünftig, sich jemandem anzuvertrauen, ein Risiko einzugehen oder etwas zu wagen. Ich muss keine Angst haben; Gott liebt mich, er lässt mich nicht im Stich. Ich kann auf ihn bauen und ihm vertrauen. Denn das bedeutet Glauben: Ich habe Vertrauen, ich kann mich fallen lassen – da ist jemand, der sich um mich sorgt, mich auffängt, mich behütet. So kann ich meinen Weg gehen, gestärkt mit den Gaben des Geistes Gottes. Amen.                                                                                                                Sven Johannsen, Pfr.

Predigt 2024 Pfingsten Glauben als Wagnis