Predigt 7. Sonntag der Osterzeit – Zur Diskussion um den Paragraphen 218a

Liebe Schwestern und Brüder

Ein alter, weißer und zölibatärer Mann mischt sich oberlehrerhaft in ein Thema ein, das eigentlich nur junge Frauen in Krisensituationen angeht – diesem Vorwurf setzte ich mich heute bewusst aus und möchte Stellung beziehen zu den Plänen der Bundesregierung im Blick auf eine Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen außerhalb des Strafgesetzes. Sie werden von einem katholischen Pfarrer nicht erwarten, dass er an diesem Punkt liberale Thesen vertritt. Da werde ich Sie auch nicht überraschen.

Wie vielen anderen Geistlichen, v.a. auch unseren Bischöfen, beschleicht auch mich das ungute Gefühl, sofort in die Ecke des unsensiblen Wächters der Lehre gedrängt zu werden, der kein Gespür für die Not von Frauen hat, die in die kritische Situation geraten, über eine Abtreibung entscheiden zu müssen. Wahrscheinlich gab es deshalb nur sehr verhaltene Reaktionen aus dem deutschen Episkopat zu den Vorschlägen der Expertenkommission der Bundesregierung, die vor vier Wochen ein Papier vorlegten, in dem Schwangerschaftsabbrüche generell straffrei gestellt werden sollen.

Bereits im Koalitionsvertrag hatte die Ampel beschlossen, eine solche Kommission einzusetzen und zu prüfen, ob es einen Weg zur Regelung jenseits des Strafrechts geben kann? Das ist keine innerdeutsche Problematik. In Frankreich wurde vor kurzem die Freiheit auf Abtreibung in die Verfassung aufgenommen und in Dänemark soll es künftig möglich sein, Schwangerschaften auch bis zur 18. Wochen abbrechen zu können. Auf europäischer Ebene fordern Politikerinnen und Politiker, die Freiheit auf Schwangerschaftsabbruch in die EU-Grundrechte-Charta aufzunehmen. In Deutschland ist Schwangerschaftsabbruch verboten. Nach Paragraf 218 des Strafgesetzbuches kann er mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Unter bestimmten Bedingungen bleibt er aber straffrei. Dazu muss der Abbruch innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen erfolgen, und die Schwangere muss sich vor dem Eingriff beraten lassen. Zu diesem historischen Kompromiss „Verboten, aber straffrei“ rangen sich die Parteien 1995 und es ist zunächst nicht davon auszugehen, dass die Vorschläge der Expertenkommission umgehend umgesetzt werden. Möglicherweise aber braucht die Ampel schnelle Erfolge und versucht, eine solche Änderung des Strafrechts zügig durchzubringen. In jedem Fall war die Reaktion der deutschen Bischöfe eher zurückhaltend. Möglicherweise fürchteten sie eine Verschärfung der Diskussion. Vielleicht hielt sie aber auch auch die Erwartung zurück, dass die Regierung wichtigere Themen hat angesichts des Wahlmarathons, der mit der Europa-Wahl am 9. Juni eröffnet wird. Tatsächlich wäre die Regierung schlecht beraten, noch ein Problemfeld aufzureißen.

Aber ein leidenschaftlicher Appell von Rita Waschbüsch, der ehemaligen Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Gründerin des Vereins „Donum Vitae“, in der Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“, in dem sie profiliert gegen die Pläne Stellung nimmt, hat mir klargemacht, dass wir Christen dieses Thema nicht einfach übergehen dürfen, denn es geht um den Schutz des ungeborenen Lebens, der Auftrag des Staates und aller Bürgerinnen und Bürger ist. Rita Waschbüsch bringt ihre Sicht auf den kurzen Nenner: „„Wer Schwangerschaftsabbrüche verharmlost, lässt die Frauen im Stich“ (Rita Waschbüsch, „Wer Schwangerschaftsabbrüche verharmlost, lässt die Frauen im Stich“; in: DIE ZEIT v. 15.4.2024 – Christ und Welt)

Rita Waschbüsch ist keine radikale Lebensschützerin oder fundamentalistische Christin, die Frauen bedrängt, die sich für eine Abtreibung entscheiden. Ganz im Gegenteil. Frau Waschbüsch, mittlerweile 83 Jahre, hat sich gerade in der Frage des Beistands von Frauen in solchen Krisensituationen sehr profiliert gegen die deutschen Bischöfe und Rom gestellt. Sie, überzeugte Katholikin, war in den siebziger Jahren die jüngste Ministerin der Bundesrepublik und v.a. über viele Jahre die prominenteste Vertreterin der katholischen Laien in unserem Land. 1988 wurde sie zur ersten Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken gewählt. Ins Rampenlicht der Öffentlichkeit trat sie v.a. in den 90ger Jahren. Das Bundes-verfassungsgericht verlangte nach der Wiedervereinigung vom Gesetzgeber eine bundeseinheitliche Neuregelung der Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch, die das Recht des ungeborenen Kindes schützt. Es kam 1995 zum Kompromiss zwischen allen Fraktionen, der allgemein auf den kurzen Nenner gebracht wird „Abtreibung ist verboten, bleibt aber straffrei bis zur 12. Woche – vorausgesetzt, dass ein Schein über Beratung vorliegt.“ Diese Regelung gilt bis zum heutigen Tag und sorgte für Frieden zwischen den unterschiedlichen Ansichten der Parteien. Anfangs waren auch katholische Fachstellen der Caritas und des Sozialdienst katholischer Frauen noch berechtigt, den Schein über eine Beratung auszustellen. Eine Gruppe von Bischöfen um Kardinal Joachim Meißner, der den Schein einmal als „Lizenz zum Töten“ abqualifizierte, wandte sich hilfesuchend an Rom. Papst Johannes Paul II forderte die Bischöfe auf, aus der staatlichen Beratung mit Ausstellung des Schein auszusteigen. Der letzte Bischof, der sich widersetzte, war der Limburger Oberhirte Franz Kamphaus, der befürchtete, dass die katholische Kirche mit einem solchen Schritt die betroffenen Frauen in ihrer Not allein lässt. Aber auch er folgte schließlich der Order aus Rom und die deutschen Bischöfe untersagten den kirchlichen Stellen ab 1999 die Ausstellung des Nachweises einer Beratung. In dieser Krise war es Rita Waschbüsch die mit der Gründung des Vereins „Donum Vitae“, „Geschenk des Lebens“, in die Lücke sprang und Beratungsstellen gründete, die auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes, weiterhin Frauen zur Seite standen und auch den Schein ausstellten. Waschbüsch stellte sich damals in krassen Widerspruch zu den Bischöfen und Rom. Heute aber ist Donum Vitae mit den mehr als 200 Beratungs-stellen, die im Sinne des Lebensschutzes beraten, ein wichtiger Gegenpol zum ähnlich großen Verein „Pro Familia“, der aber für eine Legalisierung von Schwanger-schaftsabbrüchen und die Abschaffung der Pflichtberatung eintritt. Die Kirche hat es Rita Waschbüsch nicht leicht gemacht. Ihr Verein „Donum Vitae“ wurde misstrauisch beobachtet und Mitarbeitern der Kirche verboten, in Leitungsämter des Vereins tätig zu werden. Erst 2018 konnte Kardinal Reinhard Marx den Verein und den Wert der Beratung würdigen und das Engagement ausdrücklich loben. Waschbüsch begründet heute den Weg der Vereinsgründung mit der Haltung: „Man kann nicht wegen innerkatholischer Differenzen eine Sache, die wichtig ist, aufgeben. Gerade als Christen können wir uns nicht raushalten, wenn es um Fragen des Lebens geht.“

Sie ist überzeugt, dass die Beratung viel bei den Frauen verändert. Ihr Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, „in der Beratung eine doppelte Anwaltschaft für Mutter und Kind zu übernehmen, weil das Leben eines Kindes nur mit der Mutter und nicht gegen sie geschützt werden kann.“ (Homepage Donum Vitae)

In der augenblicklichen Rechtssituation besteht eine Pflicht zur Beratung. Im Ratschlag der Expertenkommission soll zwar ein flächendeckendes, niedrig-schwelliges, barrierefreies und vielsprachiges Beratungsangebot gewährleistet werden, aber die Beratung wird freigestellt. Demgegenüber argumentiert Frau Waschbüsch: „Wenn Abtreibung so einfach möglich sein soll, geht das Bewusstsein für die Kostbarkeit des Lebens verloren – des ungeborenen Lebens, aber auch des Lebens der Frau. Indem man den Schwangerschaftsabbruch verharmlost, lässt man die Frauen meiner Meinung nach im Stich.“  Weiter führt sie aus: „Die Empfehlungen der Kommission sind im Grunde frauenfeindlich. So ein Gesetz wäre ein Freibrief für jene Männer, die sich vor ihrer Verantwortung drücken wollen. Oft sind sie es, die Frauen zum Schwangerschaftsabbruch drängen. Die können dann erst recht sagen: Stell dich nicht so an.“ (Rita Waschbüsch, s.o.; in: DIE ZEIT v. 15.4.2024 (Christ und Welt))

In keinem Fall können wir einen Kulturkampf um Schwangerschaftsabbrüche wollen wie wir es im Augenblick in den USA erleben. Dort nutzen populistische Politiker das Anliegen der Lebensschützer, um christliche Wähler zu gewinnen bzw. sie gegen Konkurrenten als vermeintliche Feinde des Lebens in Stellung zu bringen. Wenn der Schutz des Lebens zum rein politischen Thema wird, dann ist niemanden gedient, weder den Frauen noch den ungeborenen Kindern.

Von den Befürworter eine liberaleren Praxis wird oft das Recht der Frau auf Selbstbestimmung ins Feld gezogen. Das ist ein Wert, den man nicht leichtfertig übergehen darf. Wir leben in einer Zeit, in der alle Menschen, auch wir, sehr darauf bedacht sind, dass ihre Freiheiten und Rechte geschützt und geachtet werden. Keine Frau kann vom Staat verpflichtet werden, Mutter zu werden. Sie muss diese Aufgabe annehmen und bejahen. Aber es stellt sich doch die Frage, ob i.d.R. wirklich der Wert der Selbstbestimmung der entscheidende Beweggrund ist für einen Schwangerschaftsabbruch. Frau Waschbüsch, die viele Jahre Erfahrung im Verein hat und gut informiert ist durch die Gespräche mit Beraterinnen, bezweifelt das. Im Interview mit der ZEIT führt sie aus: „Die Frage der Selbstbestimmung ist ein vorgeschobenes Argument, das Wort wird hier missbraucht. Viele Schwangere befinden sich in einer Notlage und wissen nicht, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt. Deshalb ist die verpflichtende Beratung so wichtig.“ 

Es wäre ein Katastrophe wenn wir nur das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung oder nur das Recht des ungeborenen Kindes sehen. Ich schließe mich der Haltung an, dass das Recht eine Kindes auf Leben nur mit der Mutter und nie gegen sie geschützt werden kann. Daher plädiere ich weiterhin für eine Pflichtberatung, weil ich glaube, dass dort vielen Frauen Ängste genommen und Perspektiven in verzweifelter Lage aufgezeigt werden können, wie ein Leben mit ihrem Kind gut und glücklich werden kann. Es geht nicht darum, Frauen zu kriminalisieren, sondern sich bewusst zu machen, dass sich ein Mensch entwickelt und zu jedem Zeitpunkt geschützt werden muss. Rita Waschbüsch fasst es kurz in die Forderung: „Wenn der Staat nach der Verfassung die Aufgabe hat, Leben zu schützen, dann kann er die Frage auch bei der Abtreibung nicht ausschließen.“ 

Es ist eine Beratung zum Leben, der man aber eine Chance geben muss. Die wenigsten Menschen gehen freiwillig zu einer Beratung, sind aber dann doch am Ende meist dankbar dafür. Schafft der Staat die verpflichtende Beratung ab, dann versagt er in der Aufgabe, Leben zu schützen, weil er die Frauen allein lässt, die oft nach Hilfe suchen, aber oft von sich aus nicht den Weg der Beratung gehen würden.

Auch wenn ich nur ein alter, weißer, zölibatärer Priester bin, bleibe ich überzeugt, dass die augenblickliche Regelung mehr den betroffenen Frauen und den ungeborenen Kindern dient als eine völlige Freigabe, die auch den Wert des Lebens nicht mehr so deutlich machen kann wie es noch zur Zeit möglich ist.

Noch einmal folge ich zum Schluss Rita Waschbüsch und stimme ihr zu:

Wir schützen viel Banaleres durch das Strafrecht. Das Strafrecht schafft Bewusstsein, dass etwas falsch und richtig ist.“

Frauen sollen nicht zu Verbrecherinnen gestempelt werden und sie werden es auch nicht in unserer Gesellschaft, aber es muss erlebbar sein, dass der Schutz des Lebens nicht nur leere Worte ist, sondern eine lebendige Verpflichtung, die die Gesellschaft annimmt und der gegenüber sie Verantwortung übernimmt. Es kann keinen gestuften Lebensschutz geben. Wer lebt, hat ein Recht zu leben. Jede Mutter aber, die Verantwortung für werdendes Leben übernimmt, hat das Recht auf die volle Unterstützung der Gesellschaft so wie ein Leben, in dem sie sich selbst entfalten kann. Für beide Rechte müssen wir als Christen eintreten und Wege aufzeigen, dass sie einander bereichern und ergänzen. Amen. Sven Johannsen, Pfr.

Schwangerschaftsabbruch 2024